lautstark. 03.02.2025

Sprache ist mehr als das gesprochene Wort

ChancengleichheitEntlastungFrühkindliche Bildung

Sprachbildung und -beobachtung in Kitas

Sprache ist der Schlüssel zur Welt – dieser Leitsatz wird auf der politischen Bühne gern verwendet, hat in der praktischen Umsetzung jedoch einen Haken: Zur flächendeckenden Sprachförderung in Kitas fehlen mehr Ressourcen denn je. Wie steht es um die Sprachkompetenzen der unter Sechsjährigen? Was bewirken die alltagsintegrierte Sprachbildung und das Förderprogramm „Sprach-Kitas“ vor Ort?

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  • Ausgabe: lautstark. 01/2025 | Sprache. Macht. Teilhabe.
  • Autor*in: Sherin Krüger
  • Funktion: freie Journalistin
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1.300 Kitas profitieren im laufenden Kitajahr von dem Förderprogramm Sprach-Kitas, das das Land NRW nach sieben Jahren Laufzeit auf Bundesebene seit Juli 2023 weiterführt. „Das abrupte Ende des Bundesprogramms haben wir seinerzeit heftig kritisiert und uns sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene für die Fortsetzung stark gemacht“, erinnert sich Stephan Osterhage-Klingler, stellvertretender Vorsitzender der GEW NRW. 

„Das Programm hätte nicht beendet und auf die Länder abgewälzt werden dürfen, sondern ausgebaut werden müssen. Seine Zukunft ist jetzt unklar.“ Immerhin: 38 Millionen Euro sind in NRW im Haushaltsjahr 2025 für das Programm Sprach-Kitas eingeplant, eine Verpflichtungserklärung über 21 Millionen Euro bis Mitte 2026 ist unterzeichnet. Und danach?

Alltagsintegrierte Sprachbildung in den Fokus rücken

Der Titel Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist schmückt zwar das Förderprogramm, Chancengleichheit für alle Kitakinder kann es bislang jedoch nicht sicherstellen: „Das Budget reicht nur für knapp zwölf Prozent der Kitas in NRW“, weiß der GEW-Experte. Mit den Mitteln können sie je eine halbe Stelle für eine zusätzliche Fachkraft für sprachliche Bildung sowie eine prozessbegleitende Fachberatung finanzieren, die bei der alltagsintegrierten Sprachförderung unterstützen – jene Methode, die in allen Kitas angewendet wird, ob mit oder ohne Fördermittel.

Fachberater*innen wie Cosima Zimmermann von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) im Kreisverband Heinsberg e. V. sind dafür zuständig, alltagsintegrierte Sprachbildung weiter in den Fokus zu rücken – auch dann, wenn andere Themen gerade mehr Raum einnehmen: „Das geschieht immer im Austausch und in enger Zusammenarbeit mit den Mitarbeitenden der Einrichtungen. Es geht darum, ein gemeinsames Verständnis zu fördern, dass Sprache mehr ist als das gesprochene Wort, es geht um zwischenmenschliche Beziehungen und um Teilhabe an einer Gemeinschaft“, sagt sie. Dabei spielten nicht nur konkrete Methoden eine Rolle, die im Alltag angewendet werden können, sondern auch Strategien, wie zum Beispiel das Verbalisieren eigener Handlungen oder das Benennen der Gefühle der Kinder. „Ziel ist es, ihnen zu helfen, einen breiten Emotionswortschatz zu entwickeln.“

Beziehungen aufbauen und als Vorbild wirken – Sprachbildung als Querschnittsaufgabe

Stefan Raffelsieper ist seit 25 Jahren als Erzieher in unterschiedlichen Kitas tätig und hat eine Zusatzqualifikation für Sprachbildung absolviert: „Die Vermittlung von Sprache und Sprechkompetenz hängt unmittelbar mit Beziehungen zusammen. Und um Beziehungen aufzubauen und als Vorbild zu wirken, brauchen wir Zeit. Zeit, die wir aktuell im Kitaalltag kaum haben“, beklagt er. Genau wie seine Bildungsgewerkschaft ist auch Stefan Raffelsieper Befürworter der alltagsintegrierten Sprachbildung und -beobachtung. 

Vor zehn Jahren wurde die Methode in NRW eingeführt und bei einer Tagung Mitte Dezember 2024 Bilanz gezogen. Mit dabei war Renate Zimmer, Erziehungswissenschaftlerin und Mitbegründerin des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe). Sie war maßgeblich an den Empfehlungen zur alltagsintegrierten Sprachbildung und -beobachtung beteiligt und hat das Programm von 2014 bis 2018 wissenschaftlich begleitet: „Kern der alltagsintegrierten Sprachbildung ist, dass sie als Querschnittsaufgabe und durchgängiges Prinzip im Kitaalltag verstanden wird. 

Sie muss durch das gesamte Team einer Kita geleistet werden. Es ist Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte, Sprachförderung gezielt, aber dennoch dem kindlichen Entwicklungsstand angemessen – das heißt spielerisch – in den Alltag zu integrieren. Es werden keine speziellen Fördersituationen initiiert, sondern der Alltag wird für sprachliche Anregung und Begleitung genutzt“, sagt die Erziehungswissenschaftlerin. Von Kolleg*innen aus der Praxis hört Renate Zimmer, dass die Kinder so eine größere Sprechfreude entwickelten.

Corona-Maßnahmen haben bis heute negative Auswirkungen auf die Sprachentwicklung

„Die Mimik vertrauter Personen spielt für die Kinder eine große Rolle im Kitaalltag – während der Corona-Pandemie mit Maske im Gesicht konnten uns die Kinder nicht mehr wie gewohnt beim Sprechen beobachten“, berichtet Stefan Raffelsieper. Corona habe ein großes Loch in die Sprachentwicklung gerissen. Das kann auch Renate Zimmer bestätigen: „Die Schließung von Kindertageseinrichtungen führte gerade bei den Kindern, die zu Hause kein adäquates Sprachvorbild hatten, zu erheblichen Beeinträchtigungen, die viele Kinder auch jetzt noch nicht aufgeholt haben.“ 

Nicht nur mit verdecktem Gesicht unterstütze deshalb die Gestik bei der Sprachbildung: „Ich setze regelmäßig Handzeichen und Körperhaltung aus der Gebärdensprache ein“, sagt Stefan Raffelsieper. „Bei alltagsintegrierten Konzepten sind eher positive Effekte auf die Sprachentwicklung von Kindern mit Sprachförderbedarf nachgewiesen“, berichtet Renate Zimmer. 

Sprachförderung müsse so früh wie möglich ansetzen – nicht erst im Alter von vier Jahren oder kurz vor dem Übergang in die Grundschule. „Die Forschung zeigt, dass additive Sprachfördermaßnahmen, die losgelöst vom pädagogischen Alltag stattfinden und die kindliche Lebenswelt nur unzureichend berücksichtigen, sich als wenig wirksam erweisen“, so Renate Zimmer.

Die Vermittlung von Sprache und Sprechkompetenz hängt unmittelbar mit Beziehungen zusammen. Und um Beziehungen aufzubauen und als Vorbild zu wirken, brauchen wir Zeit. Zeit, die wir aktuell im Kitaalltag kaum haben.

Mehrsprachigkeit als Bereicherung wahrnehmen und Sprachförderung durch Bewegung

„Wir benennen die Dinge zum Beispiel beim Tischdecken: Teller, Besteck, Essen, Trinken. Und dabei können wir mit Präpositionen arbeiten: Gabel auf die linke Seite, Messer auf die rechte, das Glas steht oben. So stellen wir die visuelle Verknüpfung für die Kinder her“, erzählt Erzieher Stefan Raffelsieper. Besonders wertvoll sei es, wenn Kolleg*innen die diversen Familiensprachen der Kinder sprechen und Mehrsprachigkeit in Kitas gelebt würde. „Rund 30 Prozent der Kitakinder wachsen in Familien auf, in denen vorrangig nicht Deutsch gesprochen wird“, weiß Stephan Osterhage-Klingler. 

Auch dies müsse bei der Sprachförderung – insbesondere bei der alltagsintegrierten – berücksichtigt werden. In der AWO-Kita Lütticher Straße in Geilenkirchen hat man das längst erkannt und im Konzept verankert. Dafür konnten Einrichtungsleiterin Sonja Wirtz und Fachberaterin Cosima Zimmermann Ende Oktober 2024 den Deutschen Arbeitgeberpreis für Bildung* entgegennehmen: „Mehrsprachigkeit wird hier nicht als eine Besonderheit einzelner Kinder, sondern als Normalfall betrachtet. Die meisten Kinder in der Einrichtung sprechen zu Hause noch eine weitere Sprache, und alle Kinder bringen individuelle Familiensprachen mit, die wertgeschätzt werden“, sagt Cosima Zimmermann. 

Außerdem sei der Austausch mit den Eltern zentral für die Sprachbildung: „Die Mitarbeitenden bemühen sich, einzelne Wörter und Sätze in den Sprachen der Kinder zu lernen und diese im Alltag mit Freude zu verwenden. Das wirkt sich positiv auf die Beziehung zwischen den Familien und dem Team aus. Leitung und Team zeigen den Eltern, dass ihre Familiensprache als Bereicherung wahrgenommen wird“, erzählt die Fachberaterin. Sobald eine neue Sprache in die Kita käme, werde sie in das mehrsprachige Geburtstagslied der Einrichtung aufgenommen und Eltern werden eingeladen, Geschichten in ihrer Muttersprache vorzulesen. 

„Digitale Übersetzungsprogramme kommen ganz selbstverständlich in der alltäglichen Kommunikation zum Einsatz – damit die Eltern sowohl verstanden werden als auch selbst verstehen können.“ In ihren Forschungsprojekten hat sich Renate Zimmer unter anderem mit Methoden zur Förderung sprachlicher Kompetenzen wie Bewegung befasst: „Kinder entfalten ihr Sprachpotenzial im sozialen Kontext und auch in Handlungszusammenhängen, die ihre eigenen Interessen berühren.

Bewegungsangebote eignen sich hervorragend und bieten Kindern Anlässe zum Sprechen, zum Erweitern und Differenzieren ihres Wortschatzes, zum Hören und Einprägen von Satzmustern. Unsere Forschungsergebnisse machen deutlich, dass gerade Kinder, die Deutsch als zweite Sprache erwerben oder mehrsprachig aufwachsen, von einer solchen bewegungsorientierten Sprachförderung profitieren.“

Pädagogische Fachkräfte nehmen eine Schlüsselfunktion ein, von ihrem sprachförderlichen Verhalten hängt der Erfolg der Sprachförderung in hohem Maße ab.

Sprachförderung braucht Zeit für Qualifizierung, Beobachtung und Dokumentation

Zur Umsetzung der alltagsintegrierten Sprachbildung fördert das Land NRW seit 2014 vertiefende Qualifizierungsmaßnahmen. Um die sprachlichen Kompetenzen der Kinder kontinuierlich und systematisch zu beobachten und zu dokumentieren, werden in den NRW-Kitas die Verfahren der Begleitenden alltagsintegrierten Sprachbeobachtung in Kindertageseinrichtungen (BaSiK) sowie je nach Alter und Familiensprache der Kinder Sismik (Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkindern in Kindertageseinrichtungen), Seldak (Sprachentwicklung und Literacy bei deutschsprachig aufwachsenden Kindern) oder Liseb (Literacy und Sprachentwicklung beobachten) durchgeführt. 

Sie sind wissenschaftlich überprüft und eignen sich auch dazu, den Prozess der Sprachentwicklung zu begleiten. Deshalb werden alle pädagogischen Fachkräfte des Landes in diesen Beobachtungsverfahren von speziell ausgebildeten Multiplikator*innen weitergebildet. Renate Zimmer fordert: „Diese Qualifizierung des Personals muss unbedingt fortgesetzt werden. Regelmäßige Beobachtung und Dokumentation sind erforderlich, um den individuellen Bedarfen der Kinder gerecht zu werden aber auch, um Fortschritte zu dokumentieren und besondere Unterstützungsbedarfe zu erkennen und festzuhalten.“ 

Mit der Anfang Dezember 2024 veröffentlichten Personalverordnung für Kitas würde allerdings der Grundstein für gescheiterte Bildungsbiografien gelegt werden, kritisiert Kitaleiterin Angelika Brodesser im Onlineinterview für die GEW NRW. „Ergänzungskräfte können nicht das bewältigen, was ausgebildete Fachkräfte leisten. Hier stellt die neue Personalverordnung die Weichen leider genau in die falsche Richtung und öffnet einer Deprofessionalisierung Tür und Tor. 

Gerade mit Blick auf die Vielzahl der Kinder, die Sprachförderung benötigen – und zwar auch unabhängig von ihrer Muttersprache –, ist eine flächendeckende alltagsintegrierte Sprachbildung nur sinnvoll“, betont Stephan Osterhage-Klingler, „und dafür benötigen wir gut ausgebildetes Fachpersonal.“ Es bleibt zu hoffen, dass nach dem bisher geplanten Ende des Förderprogramms Sprach-Kitas in NRW im Sommer 2026 neue Konzepte folgen. 

„Die Erfahrung der vergangenen zehn Jahre zeigt, dass die pädagogischen Fachkräfte weiterhin eine kontinuierliche Begleitung durch Fortbildung und durch Fachberatung brauchen. Pädagogische Fachkräfte nehmen eine Schlüsselfunktion ein, von ihrem sprachförderlichen Verhalten hängt der Erfolg der Sprachförderung in hohem Maße ab“ – dessen ist sich Renate Zimmer sicher. Mit den Sprach-Kitas und den plusKitas seien Grundlagen vorhanden, die weiter ausgebaut werden müssen. „Insgesamt ist damit eine frühe und durchgängige Förderung der Kinder mit Unterstützungsbedarf möglich“, sagt die Erziehungswissenschaftlerin.