lautstark. 27.06.2025

Raum für Experimente schaffen

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Neue Lernkultur – neue Prüfungskultur

Wenn unsere Welt sich verändert, ist auch in Schule Transformation gefragt. Wie lernen Schüler*innen den bewussten Umgang mit Information und Wissen? Wie werden sie zu Menschen, die aktiv teilhaben und gestalten? Das Bielefelder Oberstufen-Kolleg erprobt zeitgemäßes Lernen und Prüfen.

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  • Ausgabe: lautstark. 03/2025 | Digitalisierung in Schule: Zeit für eine neue Lernkultur
  • Autor*in: Dr. Michaele Geweke
  • Funktion: Pädagogische Leiterin des Oberstufen-Kollegs Bielefeld
Min.

Angesichts der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Transformationsprozesse, die unser Jahrhundert prägen, ist auch Schule gefordert, sich zu verändern. Neben der Sicherung von Basiswissen geht es zunehmend darum, Kompetenzen im Umgang mit Wissen zu vermitteln. Auch gewohnte Rollenmuster lösen sich auf, Schüler*innen werden „mit zunehmender Selbstständigkeit zu aktiv Partizipierenden und tragen zur Gestaltung des Unterrichts bei“, wie es die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in ihrem Lernkompass 2030 formuliert. Zukunftsfähige Curricula leiten sich von der Diversität der Schüler*innen ab, die „ihre eigenen Lernwege haben und mit unterschiedlichem bereits erworbenem Wissen, mit Skills und Haltungen ausgestattet sind, wenn sie mit der Schule beginnen“, so die OECD. 

Neue Prüfungsformate fordern das statische System Schule heraus

Eine neue Lernkultur ist allerdings nicht ohne eine neue Prüfungskultur zu denken: „Prüfungsformate in Deutschland setzen auf Einzelleistungen, die – oft genug – handschriftlich (als Klausuren) in vorgegebener Zeit erbracht werden sollen. Das notwendige Wissen muss im Kopf des zu Prüfenden vorhanden sein. Dies ist eine künstlich hergestellte Anforderung, die sich in künftigen Arbeitssituationen kaum stellt.“ So beschreibt ein Autor*innenteam der Fokusgruppe Bildungspolitik der Heinrich-Böll-Stiftung in ihrem E-Paper „Neue Lernkultur für alle Schulen!“ die aktuell vorherrschende Prüfungskultur. Vor dem Hintergrund dieser Veränderungen „wirkt die Institution Schule seltsam statisch“, wie die Bildungsforscherinnen Anne Sliwka und Marie Lois Roth in einem Fachbeitrag für das "Deutsche Schulportal" feststellen.

Das gilt besonders für die gymnasiale Oberstufe, die zielgleich zum Abitur führt, deren Schüler*innen aber längst nicht mehr eine homogene Lerngruppe bilden. Man müsse, so Anne Sliwka und Marie Lois Roth, davon ausgehen, „dass die hohen Qualifizierungsanforderungen des 21. Jahrhunderts im Kontext der Oberstufe nur durch Diagnostik, Differenzierung und Flexibilisierung erreicht werden können.“ So bewegt sich die Oberstufe in einem Spannungsfeld: Standardsetzungen schaffen zwar eine gemeinsame Orientierung, schränken aber gleichzeitig den Zugriff auf individualisierende Ansätze für eine zunehmend heterogene Schüler*innenschaft ein.

Das Oberstufen-Kolleg Bielefeld sichert Kompetenzen auf einheitlichem Niveau ...

Das Oberstufen-Kolleg Bielefeld (OS) – Versuchsschule des Landes NRW – entwickelt und erprobt seit vielen Jahren Konzepte, die innerhalb des eng gesteckten Rahmens der gymnasialen Oberstufe Spielräume ausloten. Auf der Grundlage einer an der "Verordnung über den Bildungsgang und die Abiturprüfung in der gymnasialen Oberstufe" (APO-GOSt) orientierten, eigenen Ausbildungs- und Prüfungsordnung – kurz: APO-OS – führt die Schule Jugendliche mit sehr unterschiedlichen Bildungsbiografien zum Abitur. Das OS legt dabei Wert auf eine partizipative, kompetenzstärkende und prozessorientierte Lernkultur. Das bedeutet unter anderem, dass so weit wie möglich auf Noten verzichtet wird. Diese werden erst ab Stufe 12 erteilt, beziehen sich aber nicht auf ganze Kurse, sondern auf einzelne Leistungen innerhalb der Kurse.  Sowohl im Fach- als auch im fächerübergreifenden Unterricht können die Lernenden aus einer großen Bandbreite an Leistungsnachweisen wählen und so eigene Schwerpunkte setzen. Dennoch ist in fast jedem Kurs eine Klausur obligatorisch. Durch das für alle gleiche Format soll ein gleiches Setting an Kompetenzen auf einem einheitlichen Niveau gesichert werden.

... und ermöglicht zugleich Individualisierung in alternativen Prüfungsformaten

Den Raum für eine individuelle Vertiefung eröffnen die alternativen Formate, die weniger auf die Gleichheit der Erträge, sondern vielmehr auf Stärken- und Interessenorientierung setzen. Welcher der zu erbringenden Leistungsnachweise jeweils benotet werden soll, entscheiden innerhalb bestimmter Grenzen die Kollegiat*innen selbst. Sie lernen so in ihrer Laufbahn am OS eine Vielfalt an Anforderungen kennen, können sich ausprobieren und ihren Lernweg zum Abitur aktiv mitgestalten. Unterstützung bietet dabei ein*e Tutor*in als persönliche Ansprechperson. Ein individualisierendes Element im Abitur ist ein Präsentationsteil in der mündlichen Grundkursprüfung, der an das Portfolio der Qualifikationsphase anknüpft. Die APO-OS unterscheidet schriftliche, mündliche und produktbezogene Leistungsnachweise (§ 20 Abs. 1).

Diese können einzeln oder im Team, punktuell oder prozessbegleitend, digital oder analog erbracht werden. Neben etablierten Formen wie Klausur, Referat und Hausarbeit erprobt das OS auch neue Formen. Das kann je nach Kurskonzept ein Lernvideo, ein wissenschaftlicher Flyer, eine Spieleprogrammierung, ein Rollenportfolio oder der Bau eines Modells sein. Das kann aber auch ein Produkt sein, das im Rahmen einer Projektphase oder einer besonderen Lernleistung entsteht. Über geeignete Formate für die fachspezifischen Leistungsnachweise stimmen sich die Fachkonferenzen ab. Das schließt aber nicht aus, dass Kollegiat*innen eigene Ideen einbringen. In den fächerübergreifenden Kursen entstehen regelmäßig Leistungsnachweise, die mehrere Fachperspektiven verbinden, wie zum Beispiel die künstlerische Darstellung eines naturwissenschaftlichen Phänomens.  

Praxisprojekte zur Aufforstung verbinden neue Lern- und Prüfungsformate

Am Beispiel der Aufforstungsprojekte, die am OS in verschiedene Kursarten integriert sind, lässt sich zeigen, wie eine neue Lern- und Prüfungskultur in der Praxis aussehen kann. Die Kollegiat*innen arbeiten in diesen Praxisprojekten prozess- und produktorientiert nach dem Prinzip des Forschenden Lernens. Sie planen ihre Arbeitsprozesse, erheben Daten, werten diese aus und dokumentieren die Ergebnisse in Untersuchungsberichten, Protokollen oder Videos. Die Lehrenden leisten dabei fachliche Unterstützung. Auch Facharbeiten und besondere Lernleistungen entstehen in diesen Projekten. Indem sich die Jugendlichen einerseits wissenschaftlich mit den Folgen des Klimawandels auseinandersetzen, aber auch aktiv zur Problemlösung beitragen, werden nachhaltige Bildungsprozesse angestoßen, die fachliches Lernen mit der Entwicklung einer kritischen Haltung verknüpfen.

Veränderung braucht auch Innovationsoffenheit an den Schulen

Nach diesem Blick in die Praxis stellt sich zum Schluss die Frage, was es braucht, damit eine Transformation der Prüfungskultur gelingen kann. Zum einen braucht es eine Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen, wie sie zum Beispiel derzeit durch das schulfachliche Eckpunktepapier zur Weiterentwicklung der gymnasialen Oberstufe in NRW des Schulministeriums angebahnt wird. Demnach soll unter anderem gesichert werden, dass jede*r Abiturient*in „ein breites Spektrum zukunftsrelevanter Formen der Leistungsüberprüfung kennengelernt und grundlegend eingeübt hat“.  Zum anderen braucht es aber auch Schulen, die sich mit Innovationsoffenheit, Teamgeist und Kreativität auf den Weg machen, Schulen, die in partizipativen Prozessen unter Beteiligung von Lehrenden und Lernenden Experimentierräume für die Entwicklung und Erprobung der neuen Formate eröffnen. Doch wie ist das leistbar? 

Erfahrungsgemäß ist Innovation kaum ohne zusätzlichen Aufwand zu haben. Dass man andere Belastungsfaktoren zu diesem Aufwand ins Verhältnis setzt, ist bei veränderten Rahmenbedingungen jedoch denkbar. Arbeitsbelastung und Arbeitszufriedenheit miteinander abwägend zieht ein Kollege, der an den Aufforstungsprojekten des OS beteiligt war, für sich die folgende Bilanz: „Auch wenn solche Neuerungen am Anfang viel Energie brauchen – es ist eine sehr bereichernde und zufriedenstellende Arbeit für alle Beteiligten, sich über längere Zeit mit etwas zu befassen und dann auch die Ergebnisse zu sehen.“ 

Reform der gymnasialen Oberstufe: GEW NRW fordert Rechtssicherheit und Entlastung

Die Landesregierung plant, die gymnasiale Oberstufe in NRW weiterzuentwickeln. Neben neuen Prüfungsformaten sollen ein fünftes Abiturfach und verpflichtende Projektkurse eingeführt werden. Wie steht die GEW NRW zu den Reformplänen?

Mit den neuen Regelungen möchte die Landesregierung veränderten gesellschaftlichen Anforderungen an die allgemeine Studierfähigkeit und die vertiefte Allgemeinbildung für Abiturient*innen Rechnung tragen. Laut Kabinettsbeschluss sollen die Änderungen den Abiturjahrgang 2029 betreffen. Die GEW NRW begrüßt grundsätzlich die Aufwertung der Projektkurse, um so innovative Lernformen und Prüfungsformate vorbereiten zu können. Allerdings lässt sich festhalten, dass Lehrkräfte durch Projektkurse in den meisten Fällen eine deutlich höhere Arbeitsbelastung haben. Die Bildungsgewerkschaft kritisiert deutlich die Leitentscheidung, ein fünftes Abiturfach einzuführen. 

Zusätzliche Prüfungen führen nicht zu modernisiertem Unterricht, sondern schaffen zusätzliche Belastungen! Nach dem Kabinettsbeschluss ist in der derzeitigen Regierungskonstellation das fünfte Abiturfach jedoch leider nicht mehr zu verhindern. Deshalb fordert die GEW NRW entweder eine Pilotierung des Projekts oder zumindest eine schrittweise Einführung, damit sich die Kolleg*innen nicht überhastet in die Thematik einarbeiten müssen und organisatorische Probleme erkannt und behoben werden können, bevor die Projektkurse abiturrelevant werden. 

Für die Benotung in den alternativen Prüfungsformaten erwartet die GEW NRW von den Vorgaben des Ministeriums eine deutliche Rechtssicherheit. Die Bildungsgewerkschaft fordert außerdem weitere Entlastungen gerade im Bereich der Korrekturen, so zum Beispiel eine Reduzierung der Klausuren in den Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik auf nur eine Klausur pro Halbjahr während der Einführungsphase sowie eine deutliche Reduzierung der Klausurdauer in der Qualifikationsphase und im Abitur.  Die GEW NRW wartet derzeit auf einen Entwurf der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die Oberstufe und die dazugehörigen Kernlehrpläne, um dann im Rahmen der Verbändebeteiligung noch einmal kritisch Stellung zu beziehen. 

Caroline Lensing 
stellvertretende Vorsitzende der GEW NRW

GEW NRW: Stellungnahme zum Eckpunktepapier der Landesregierung

MSB NRW: Schulfachliches Eckpunktepapier für die Weiterentwicklung der gymnasialen Oberstufe in Nordrhein-Westfalen