

Welche Professionen arbeiten in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung und wer ist dort beschäftigt?
Susanne Luger: Bei unserem Träger sind vor allem Menschen mit einer geistigen oder psychischen Behinderung beschäftigt. Meine Kolleg*innen sind wie ich gelernte Heilerziehungspfleger*innen oder sie sind Ergotherapeut*innen, Fachkräfte für Arbeits- und Berufsförderung (FAB), Sozialarbeiter*innen und Krankenpfleger*innen. Viele bringen eine handwerkliche Ausbildung mit und haben eine sonderpädagogische Zusatzausbildung absolviert. Wir arbeiten als Fach- oder Zusatzkräfte in Multiprofessionellen Teams. Ich bin als Betriebsrätin seit Kurzem vollständig freigestellt. Besonders wichtig ist mir die enge Zusammenarbeit mit dem Werkstattrat und der Frauenbeauftragten, die die Beschäftigten vertreten. Denn ich bin überzeugt: Nur gemeinsam können wir die Bedingungen für alle verbessern.


Welche gesetzlichen Rahmenbedingungen strukturieren und finanzieren eure Arbeit und die der Beschäftigten?
Susanne Luger: Grundlage ist das Sozialgesetzbuch (SGB) IX, insbesondere § 219. Es regelt die Aufgabe der Werkstätten als Teil der Eingliederungshilfe: Menschen mit Behinderung erfahren so Teilhabe am Arbeitsleben – bei uns im sogenannten zweiten Arbeitsmarkt, manche wechseln von der Werkstatt in den ersten Arbeitsmarkt. Oft ist das aber gar nicht so attraktiv für die Menschen, weil zum Beispiel der Verdienst geringer ausfällt oder sich der Rentenanspruch zeitlich nach hinten verschiebt. Die Finanzierung ist ziemlich verzwickt – in der Regel kombiniert aus Landschaftsverbänden und der Bundesagentur für Arbeit. Die Träger der Werkstätten sind ähnlich wie bei Kitas sehr unterschiedlich und ihre Refinanzierung ist nicht einheitlich.
Nordrhein-Westfalen ist das einzige Bundesland ohne klassische Tagesförderstätten mit passiver Betreuung; stattdessen haben wir heilpädagogische Arbeitsbereiche (HPA): Die Kolleg*innen integrieren die Arbeit für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Sie bieten eine aktiv gestaltete, strukturierte Arbeitsumgebung, die individuell auf die Bedürfnisse der Beschäftigten zugeschnitten ist. Das kann allerdings zu Problemen in der Refinanzierung führen, weil immer ein Mindestmaß an verwertbarer Arbeit nachgewiesen werden muss.
Die Bezahlung der Beschäftigten setzt sich aus einem Grundbetrag, einem Arbeitsförderungsgeld und einem leistungsabhängigen Steigerungsbetrag zusammen. Meine Kolleg*innen und ich werden in Anlehnung an den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) bezahlt – und leider häufig zu niedrig eingruppiert, als es unserer Verantwortung entspricht.
Welche pädagogischen und organisatorischen Aufgaben erfüllt ihr?
Susanne Luger: Unsere Aufgaben sind vielfältig: Wir erstellen diverse Förderpläne, leiten an, begleiten, beraten, dokumentieren und stehen im engen Austausch mit Angehörigen und Betreuungssystemen. Wir fördern die Selbstständigkeit und Teilhabe, unterstützen bei Praktika, alltäglichen Routinen wie Pflege oder Medikamentengabe und befähigen unsere Beschäftigten, selbst für ihre Anliegen einzutreten – etwa über Werkstatträte oder Frauenbeauftragte.
Das pädagogische Personal formuliert gemeinsam mit den Beschäftigten personenzentrierte Ziele und erstellt die Teilhabeplanung. Der Soziale Dienst (SD) übernimmt dabei vor allem im Bereich der Menschen mit geistiger Behinderung die Beratung und nutzt das Bedarfsermittlungsinstrument (BEI_NRW) als Gesprächsleitfaden, um Wünsche und Bedarfe der Beschäftigten zu erfassen. Außerdem sind bei Personalmehrbedarf Zusatzkräfte für die Arbeits- und Berufsförderung (ZAB) im Einsatz: Alles, was die Fachkräfte für Arbeits- und Berufsförderung (FAB) in 52 Minuten pro Klient*in täglich nicht leisten können, muss beantragt und vom Leistungsträger genehmigt werden.
Einen typischen Arbeitstag gibt es bei uns kaum. Wenn die Beschäftigten morgens ankommen, schauen wir zuerst: Wer ist da? Wie geht es allen? Oft merken wir schon am Verhalten, wenn jemand Unterstützung braucht – bevor überhaupt an Arbeit zu denken ist. Ich selbst habe zum Beispiel ein Sozialkompetenztraining für eine kleine Gruppe angeboten – jeden Freitag, über ein ganzes Jahr hinweg.
Solche individuellen Angebote sind sehr wertvoll und oft notwendig, aber im Alltag kaum zu realisieren, weil die Zeit dafür fehlt. Unsere Personalschlüssel sind eng bemessen: Bei den Fachkräften im Arbeitsbereich mit 1 : 12, im Berufsbildungsbereich mit 1 : 6, im Sozialen Dienst mit 1 : 120 beziehungsweise 1 : 60. Diese Schlüssel werden der Realität längst nicht mehr gerecht. Ich wünsche mir dringend mehr personelle Entlastung, um wieder mehr Zeit für das zu haben, worum es eigentlich geht – den Menschen.
Welche Veränderungen wünschst du dir für deine Kolleg*innen und die Beschäftigten noch, damit eure Arbeit nachhaltiger wirkt?
Susanne Luger: In den vergangenen Jahren hat sich die Arbeit für die pädagogisch Beschäftigten in den Werkstätten stark verändert. Aufgaben, Dokumentationspflichten und Erwartungen sind gestiegen. Wir brauchen mehr Personal, die Personalschlüssel werden an Vollzeitäquivalenten bemessen und nicht pro Kopf. Außerdem brauchen wir eine bessere Eingruppierung und eine verlässliche Refinanzierung durch die Leistungsträger.
Es darf nicht sein, dass pädagogische Arbeit am Kostendruck scheitert. Außerdem wünsche ich mir eine intensivere Begleitung der Menschen, die auf den ersten Arbeitsmarkt wechseln wollen, und bessere Mobilitätsangebote im ländlichen Raum. Denn oft scheitert Teilhabe schlicht am Busfahrplan. Nachhaltig wird unsere Arbeit, wenn sie auch strukturell getragen wird – durch faire Bedingungen, Weiterbildung und gesellschaftliche Anerkennung.
Wie kann die GEW NRW dabei unterstützen?
Susanne Luger: Ich glaube, die wichtigste Aufgabe ist, eine Lobby zu schaffen – sichtbar zu machen, dass Eingliederungshilfe ein eigenes, komplexes Feld ist, das in der öffentlichen Wahrnehmung oft untergeht. Die GEW kann politische Präsenz aufbauen und zeigen: Auch in Werkstätten wird hoch qualifizierte pädagogische Arbeit geleistet, die systemrelevant ist. Die Gewerkschaft unterstützt uns, indem sie Eingruppierungsmerkmale im TVöD oder TV-L mitverhandelt, sich für faire Bezahlung und vergleichbare Standards stark macht.
Darüber hinaus geht es um Netzwerke und Austausch: zwischen Betriebsräten, Werkstatträten und Gewerkschaftsvertreter*innen. Die GEW kann da verbindend wirken, Wissen teilen und Initiativen zusammenführen. Denn es fehlt oft nicht an Engagement, sondern an Struktur. Ich sehe die GEW als Partnerin, die uns fachlich stärkt und unsere Professionen wieder auf die politische Agenda bringt.
Und welche Veränderungen sind deiner Ansicht nach gesamtgesellschaftlich beim Thema Inklusion nötig?
Susanne Luger: Wir müssen uns täglich daran erinnern, dass wir eine soziale Gesellschaft sind. Echte Inklusion entsteht meines Erachtens zum Beispiel dann, wenn ein Mensch im Betrieb fachlich, sozial und finanziell gleichwertig anerkannt ist; wenn er selbstverständlich dazugehört, mit Rechten, Pflichten und Entwicklungsmöglichkeiten. Ob er auf dem ersten oder zweiten Arbeitsmarkt beschäftigt ist, finde ich dabei weniger relevant. Aber natürlich brauchen wir mehr Zeit für Aufklärungsarbeit, um Arbeitgeber abzuholen.
Viele haben Vorurteile oder Ängste: Sie fürchten Mehraufwand oder Unsicherheit. Dabei haben wir tolle Jobcoaches, die Brücken bauen und begleiten. Inklusion braucht aber nicht nur Strukturen, sondern auch Haltung: Wir müssen uns wieder als Gesellschaft verstehen, die füreinander Verantwortung trägt. Für mich ist Empowerment der Kern unserer Arbeit: nicht für die Menschen zu sprechen, sondern ihnen zu helfen, selbst laut zu werden. Inklusion heißt für mich: gemeinsam mit ihnen gestalten, nicht über sie hinweg.
Was begeistert dich besonders an deinem Beruf?
Susanne Luger: Der Umgang mit Menschen. Er bringt mich mir selbst auch ein bisschen näher. Jeden Tag werden die Karten neu gemischt. Es ist sehr echt und ungefiltert. Ich bin Stütze auf dem Weg zu individuellen Zielen und feiere mit, wenn jemand Fortschritte macht. Diese Bindungsarbeit, dieses Miteinander – das ist herzlich; manchmal zum Lachen, manchmal zum Weinen. Aber immer sinnstiftend.







