

Wenn Gudrun Kellermann ihre Vorlesung beginnt, liegt eine lange Vorbereitung hinter ihr. Für eine gute Kommunikation mit ihren Studierenden muss sie mehr leisten als andere Mitarbeitende an der Evangelischen Hochschule Bochum (EvH Bochum). Die Wissenschaftlerin ist von Geburt an hörbehindert und hat eine Stimmbandlähmung. Um Inhalte für alle zugänglich zu machen, investiert sie viel Zeit in eine barrierearme Gestaltung ihrer Präsentationen.
Rund 20 Minuten dauert es außerdem, bis sie die Mikrofone und die automatische Spracherkennung auf ihrem Tablet eingerichtet hat. Bei größeren Veranstaltungen oder Prüfungen setzt sie Schriftdolmetscher*innen ein – Fachleute, die das Gesprochene in geschriebene Texte umwandeln. „Die Hochschule ist sehr offen für Inklusion und hat in den vergangenen Jahren viel dafür getan. Und doch gibt es noch immer viele Barrieren im Leben von Beschäftigten und Studierenden mit Behinderung“, sagt Gudrun Kellermann.
Die Wissenschaftlerin ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der EvH. Sie beschäftigt sich vor allem mit Disability Studies, Inklusion und der UN-Behindertenrechtskonvention. Ihr Aufgabengebiet sei vielfältig, wie sie erzählt: „Ich biete Seminare und Vorlesungen an, begleite Bachelorarbeiten und nehme Prüfungen ab. Außerdem besuche ich viele Konferenzen und organisiere mit Kolleg*innen auch selbst Veranstaltungen – und daraus entstehen manchmal Publikationen.“
Um alltägliche Anforderungen an Hochschulen zu bewältigen, müssten Menschen mit Behinderungen viel Eigeninitiative zeigen – und scheiterten am Ende immer wieder an Kleinigkeiten: „Damit ich Veranstaltungen anbieten kann, brauche ich eine gute technische Ausstattung vor Ort, und manchmal streikt der Beamer oder das Internet.
Zudem muss ich mich eigenverantwortlich um Schriftdolmetscher*innen kümmern – in der Hoffnung, dass sie verfügbar sind, und in dem Wissen, dass mir nur ein bestimmtes Budget zur Verfügung steht.“ Bis heute gebe es Bereiche des Hochschullebens, in denen Belange von behinderten Mitarbeitenden und Studierenden zu wenig mitgedacht würden – etwa bei großen Veranstaltungen, Ausflügen oder Feierlichkeiten.
Zentrum für Disability Studies ist wichtiger Baustein der Inklusionskultur an der Evangelischen Hochschule Bochum
Nicht nur deshalb arbeitet Gudrun Kellermann im Bochumer Zentrum für Disability Studies (BODYS) an der EvH Bochum mit. Seit 2015 beschäftigt sich das Institut mit dem Lehr- und Forschungsfeld der Disability Studies, das auf eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen in allen Lebensbereichen abzielt. Neben Forschungsprojekten initiiert BODYS unter anderem Fortbildungen und Tagungen.
Das Team untersucht zudem, wie gut die UN-Behindertenrechtskonvention im Alltag umgesetzt wird, und initiiert Kooperationen. Damit sei BODYS ein wichtiger Baustein der Inklusionskultur an der EvH, betont die Beauftragte für Barrierefreiheit, Sinem Malgac. „Es geht uns darum, dass alle Menschen – unabhängig von einer Beeinträchtigung oder individuellen Voraussetzungen – die gleichen Chancen auf Teilhabe an Bildung, Forschung und am gesamten Hochschulleben haben sollen.“
Barrierefreiheit sei dabei von zentraler Bedeutung und werde über die bauliche Ebene hinaus verstanden. So seien alle Gebäudeteile der EvH mit Rampen, Aufzügen und automatischen Türöffnern sowie behindertengerechten Toiletten ausgestattet. „Daneben betrifft Inklusion aber auch die digitale Zugänglichkeit, also beispielsweise barrierefreie Lernplattformen und Dokumente, sowie die kommunikative und soziale Dimension. Dazu zählt, dass Lehrmaterialien verständlich und diskriminierungsfrei gestaltet sind.“
Tatsächlich sei die EvH in Sachen Inklusion und Barrierefreiheit besser aufgestellt als andere Hochschulen, sagt Elena Meth. „Das inklusive Miteinander zeigt sich zum Beispiel dadurch, dass alle auf Augenhöhe miteinander kommunizieren können. Zudem werden bestmöglich die Bedarfe der jeweiligen Person berücksichtigt“, erzählt die 26-Jährige, die den Masterstudiengang Soziale Inklusion: Gesundheit und Bildung absolviert.
Als Studentin im Rollstuhl habe sie die Möglichkeit, alle Räume auf dem Gelände der EvH zu erreichen. Doch gerade Seminarräume seien teilweise zu klein, um sich uneingeschränkt zu bewegen. „Dann müssen erst Tische verschoben werden, damit ich mit dem Rollstuhl einen geeigneten Platz erreichen kann.“ Hinzu kämen alltägliche Hürden. „Ich bin auf einen Fahrdienst angewiesen, den ich vorab bestellen muss. Wenn also Lehrveranstaltungen kurzfristig ausfallen, kann ich nicht einfach flexibel die Hochschule wieder verlassen.“
Beratungsstelle der Hochschule unterstützt Studierende mit Behinderung
Um Anliegen dieser Art kümmert sich an der EvH die Beratungsstelle Krankheit und Behinderung im Studium (KuBuS). Dort können Studierende mit Behinderung nicht nur in regelmäßigen Treffen ihre Anliegen vorbringen. Sie haben auch die Möglichkeit, einen Nachteilsausgleich zu beantragen. „Studierende mit einer Behinderung, mit chronischen Krankheiten oder psychischen Belastungen haben einen Mehraufwand, der nicht sichtbar ist“, sagt die Behindertenbeauftragte der EvH, Prof. Dr. Birte Hinzpeter. Der Nachteilsausgleich ermögliche es, die Rahmenbedingungen des Studiums an die jeweilige Situation anzupassen. Je nach Bedarf könnten etwa die Abgabefristen bei wissenschaftlichen Arbeiten verlängert oder zusätzliche Pausen in Klausuren eingeplant werden.
Es geht uns darum, dass alle Menschen – unabhängig von einer Beeinträchtigung oder individuellen Voraussetzungen – die gleichen Chancen auf Teilhabe an Bildung, Forschung und am gesamten Hochschulleben haben sollen.
Darüber hinaus würden die Bedarfe von Studierenden und Beschäftigten mit Behinderung regelmäßig abgefragt, sagt Sinem Malgac. „Schon mit dem ersten Aktionsplan zur Barrierefreiheit und Inklusion im Jahr 2009 wurde das Thema fest in der Hochschule verankert und partizipativ weiterentwickelt“, erzählt die Beauftragte für Barrierefreiheit. Um Wünsche aufzunehmen, sei sie in verschiedenen Gremien und Arbeitsgruppen vertreten. Aktuell werde ein Strategieplan für Barrierefreiheit erarbeitet. „Dabei hatten alle Hochschulangehörigen vorab die Möglichkeit, ihre Perspektiven in Workshops einzubringen und Barrieren offen anzusprechen.“
Hochschule hat noch viel vor, um die Inklusion zu stärken
Für die kommenden Jahre plane die EvH mehrere Projekte, um Barrierefreiheit und Inklusion weiter zu stärken. „Ein zentraler Schritt ist die Entwicklung eines Schulungsangebots für Hilfskräfte, das sie befähigt, barrierefreie Standards in ihrer Arbeit umzusetzen“, berichtet Sinem Malgac. In Planung sei auch ein Konzept für barrierefreies Forschen – ebenso wie ein spezielles Angebot für Studierende mit Beeinträchtigungen. „Sie können Wünsche einbringen, damit diese gezielt umgesetzt werden.“ Hinzu kämen neue Schulungsangebote für Mitarbeitende zur Barrierefreiheit in der Lehre sowie zum Thema Intersektionalität. Und nicht zuletzt gehe es darum, barrierefreie Angebote im Hochschulalltag besser sichtbar zu machen, damit Studierende und Mitarbeitende mit Behinderung schneller erfassen könnten, wo sie Unterstützung finden.
Genau hier setzen auch die Forderungen von Lisa an – einer gehörlosen Studentin, die bewusst nur ihren Vornamen nennen möchte. So sei vielen tauben Studierenden nicht bekannt, dass sie einen Nachteilsausgleich beantragen könnten. „Dadurch verlieren sie mitunter ein ganzes Semester oder müssen sich mit großem Aufwand durchkämpfen.“ Überhaupt müssten Menschen mit Behinderung viel Eigeninitiative leisten, um Inklusion zu erleben. „Meistens passiert erst etwas, wenn ich selbst aktiv werde und meine Bedürfnisse erkläre. Das kostet Kraft und Zeit“, sagt Lisa.
Gudrun Kellermann hat vor allem den Wunsch nach einer besseren technischen Ausstattung und mehr Rücksichtnahme auf die Belange behinderter Wissenschaftler*innen. Dass sie auch bei großen Tagungen allen Beiträgen folgen und Videokonferenzen in jedem beliebigen Raum abhalten könne – das sei ihr großer Traum für die Zukunft.







