

Mit tendenziell steigenden Inklusionsquoten wird es in den Klassenzimmern immer voller. Denn Kinder mit diagnostizierten Einschränkungen und besonderen Bedürfnissen haben auf Basis des Sozialgesetzbuchs (SGB) Anspruch auf eine Integrationskraft – kurz: I-Kraft oder I-Hilfe –, die sie im Schulalltag unterstützt und fördert.
Die I-Kräfte werden von den Eltern beantragt, vom Jugend- oder Sozialamt bewilligt und über die Eingliederungshilfe finanziert. Mit ihnen sind neben der Lehrkraft also weitere und teils viele Erwachsene im Unterricht. Schulleitungen berichten von bis zu zehn Personen, in Förderschulklassen könne es sogar zum 1 : 1-Verhältnis kommen.
Derzeit ist diese individuelle Schulbegleitung – also eine I-Kraft für ein Kind – das Standardsystem in Deutschland, Poollösungen gewinnen aber zunehmend an Bedeutung. Dabei werden die I-Hilfen direkt und fest bei der Schule angestellt und nach Bedarf auf die Klassen verteilt. Sie betreuen mehrere Schüler*innen flexibel und können auch Kindern ohne formalen Anspruch situativ helfen. Unterricht und individuelle Unterstützung sollen so besser koordiniert werden.
Zahl der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf steigt weiter.
152.630 Schüler*innen hatten im Schuljahr 2023 / 2024 an den allgemeinbildenden Schulen in NRW einen sonderpädagogischen Förderbedarf.
Nach Angaben von Information und Technik Nordrhein-Westfalen waren das 3,3 Prozent mehr als im Schuljahr zuvor (2022 / 2023: 147.725) und 36,9 Prozent mehr als im Schuljahr 2005 / 2006 (111.531). Seit dem damaligen Zeitpunkt stieg die Zahl der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf nahezu jährlich.
Von den 152.630 Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Schuljahr 2023 /20 24 besuchten 84.310 eine Förderschule (55,2 Prozent), die übrigen 68.320 lernten an einer allgemeinen Schule. Die Inklusionsquote im Schuljahr 2023 / 2024 lag damit bei 44,8 Prozent.
Hoher Verwaltungsaufwand und wenig Flexibilität versus bessere Einsatzplanung und stärkere Integration ins Team
Auch die GEW NRW spricht sich für Poollösungen aus. Stephan Osterhage-Klingler, stellvertretender Vorsitzender der GEW NRW und für die Themen sonderpädagogische Förderung und Inklusion zuständig, sieht darin Vorteile – und Nachteile im bisher verbreiteten Einzelfallsystem. Müssen Integrationskräfte nicht mehr individuell beantragt werden, kann zunächst viel bürokratische Arbeit reduziert werden.
„Für jedes einzelne Kind diese Anträge zu schreiben, ist ein enormer Verwaltungsaufwand für alle Beteiligten“, sagt er. Ein Problem seien teilweise auch die sehr unterschiedlichen Qualifikationen der Integrationshelfer*innen, da es landesweit keine einheitlichen Mindestanforderungen gebe. „Die Zusammenarbeit ist oft gerade zu Beginn schwierig, weil manche Helfer*innen keinen pädagogischen oder sonderpädagogischen Hintergrund haben. Man muss als Lehrkraft viel erklären und absprechen, was im Alltag zeitlich kaum leistbar ist.“ Ein gemeinsames pädagogisches Handeln könne so kaum entstehen.
Anders sei es beim Poolmodell: „Wenn die I-Kräfte dauerhaft und fest in der Schule sind, entwickelt sich eine ganz andere Kooperation und Integration ins Kollegium“, betont Stephan Osterhage-Klingler. Auch die Arbeitsbedingungen der Schulbegleitungen würden sich verbessern. Dass sie derzeit einzelfallbezogen angestellt sind, bedeutet: Kommt das Kind nicht in die Schule, werden sie häufig nicht bezahlt.
„Wenn das Kind morgens krank ist, kann die Schulbegleitung nach Hause fahren“, erklärt der Experte. Umgekehrt steht das Kind ohne Hilfe da, wenn die I-Kraft nicht in der Schule ist. Die Poollösung flächendeckend umzusetzen, sei jedoch rechtlich und organisatorisch komplex, räumt er ein. Grund sind die Kooperationsverträge, die die Zusammenarbeit zwischen Schulen und dem örtlich zuständigen Jugendamt bei bei der Bereitstellung von Schulbegleitungen regeln.
„Im Grundschulbereich hat man vielleicht nur ein Jugendamt, mit dem man Kooperationsverträge schließt. Im Förderschulbereich und in vielen Schulformen der Sekundarstufe I sind es oft sieben, acht, neun oder mehr. Mit allen muss man eine gemeinsame Regelung finden.“ Eine landesweite Umstellung des Systems erfordere daher eine gezielte politische Initiative und klare gesetzliche Regelungen. Eltern müssten zudem ausdrücklich auf den Anspruch auf individuelle Begleitung für ihr Kind verzichten.
Positive Erfahrungen des Modellprojekts: Ein guter Ort für alle in Hamm
Rückendeckung bekam das Poolmodell in der Vergangenheit beispielsweise durch das Modellprojekt Ein guter Ort für alle – Wir gestalten Inklusion, das von 2017 bis 2020 in Hamm lief. Dahinter standen der Jugendhilfeträger, die Friedrich-Wilhelm-Stift gGmbH, die Stadt Hamm und drei Grundschulen: die Freiligrathschule, die Gebrüder Grimm Schule und die Talschule. An jeder der beteiligten Schulen war drei Jahre lang ein Team von fünf bis neun Integrationskräften systemisch für alle Kinder zuständig, nicht nur speziell für diejenigen mit Einschränkungen und diagnostiziertem Unterstützungsbedarf.
Die Kinder wurden bedarfsgerecht und flexibel in enger Zusammenarbeit mit den Lehrkräften unterstützt. Das System sollte weniger diskriminierend für einzelne Kinder und präventiv für eine größere Zahl von Schüler*innen sein. Es wurden keine individuellen Ansprüche geprüft, die Eltern mussten keine Anträge stellen. Die Integrationskräfte waren kontinuierlich in die Strukturen der Schule eingebunden.
Chance auf Bildungsgleichheit wird gefördert
Der Versuch gelang. Im Abschlussbericht heißt es: „Zusammengefasst liefern die vorliegenden Befunde Hinweise dafür, dass Poollösungen mit einer Struktur und einem Konzept wie in Hamm die soziale Teilhabe von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf eher fördern, als dieser entgegenzuwirken.“ Im Mittel fühlten sich die Kinder in ihre Klassen sozial integriert und hätten Freude am Schulbesuch. Die Schulbegleitung werde als Person wahrgenommen, die alle Kinder unterstütze.
Ein Sonderstatus oder eine Stigmatisierung einzelner Schüler*innen könne so weitgehend ausgehebelt und ihre Chance auf Bildungsgleichheit mehr gefördert werden. Klassenlehrkräfte und Schulbegleiter*innen hoben hervor, alle Kinder nun besser und schneller unterstützen zu können – und dabei stärker ein Team zu sein. Insgesamt fühlten sich die Schulbegleiter*innen besser eingebunden in die Schulgemeinschaft als während der Arbeit in der Einzelfallhilfe.
Anforderungen, damit es funktioniert
Das Modellprojekt stellte aber auch fest: Für das Gelingen sei eine ausreichende pädagogische Qualifikation der Schulbegleitungen wichtig. Aufgaben und Verantwortlichkeiten von Schulbegleitungen, Lehrkräften und Schulleitung müssten in allen Fällen klar geregelt sein. Für Meetings und Besprechungen, Abstimmungen und Planung sollte es ausreichend Zeit und Strukturen geben.
Heute sind die drei damaligen Projektschulen Teil des im Sommer 2023 eingeführten Kommunalen Unterstützungssystems (KUS) in Hamm. In dem Netzwerk kooperieren Schulen, Jugendhilfe, soziale Träger und Fachstellen miteinander. Ziel ist es, eine verlässliche und abgestimmte Unterstützung für Kinder und Jugendliche zu schaffen. Dabei spielen auch Poollösungen eine Rolle. Im schulischen Bereich ist ein Träger sowohl für die Unterstützungskräfte am Vormittag als auch für die Nachmittagsbetreuung zuständig.
„Mehr Unterstützung der Lehrkräfte und vor allem der Schüler*innen durch Integrationskräfte ist auch ein weiterer Schritt hin zu mehr Chancengleichheit für alle Kinder und Jugendlichen. Poollösungen stellen dabei ein sinnvolles Modell dar. Dafür sind aber noch viele Schritte zu machen“, betont Stephan Osterhage-Klingler. „Als GEW NRW erwarten wir von der Landesregierung, sich auf den Weg zu machen und tragfähige Lösungen zu finden und auszubauen.“







