Schaut man sich einzelne Zahlen an, kann man den Eindruck gewinnen, wir in NRW seien auf einem guten Weg. Betrug die Inklusionsquote – also die Quote der Kinder mit einem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf, die in einer Regelschule unterrichtet werden – im Jahr 2009 noch lediglich 14,4 Prozent, ist sie bis zum Schuljahr 2022 / 2023 laut IT.NRW auf 44,6 Prozent angestiegen.
Ein genauerer Blick zeigt allerdings ein anderes Bild. Denn nicht nur die Inklusionsquote ist seit 2009 kontinuierlich angestiegen, parallel dazu hat sich auch die Gesamtanzahl der Kinder und Jugendlichen mit einem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf massiv erhöht – und zwar um 26 Prozent auf aktuell mehr als 160.000 Kinder. Hiervon besuchen derzeit gut 55 Prozent eine Förderschule und knapp 45 Prozent eine Regelschule. Nach aktuellen Schätzungen wird dieser Bedarf auch zukünftig weiter steigen.
Woran liegt das? Wie steht es tatsächlich um die Umsetzung der Inklusion an unseren Schulen? Und welche Rahmenbedingungen braucht eine gelingende Inklusion, um Lehrkräfte in die Lage zu versetzen, alle Kinder und Jugendlichen entsprechend ihren individuellen (sonderpädagogischen) Unterstützungsbedarfen unterrichten zu können sowie den Schüler*innen eine angemessene und ihnen zustehende Förderung zukommen zu lassen?
Personalmangel ist ein massives Problem …
An erster Stelle müssen Maßnahmen ergriffen werden, um dem Personalmangel an Regelschulen entgegenzuwirken. Für das Gemeinsame Lernen an Regelschulen fehlen insbesondere Sonderpädagog*innen. Landesweit sind an Förderschulen und im Gemeinsamen Lernen zusammen über 3.000 Stellen für Sonderpädagog*innen unbesetzt. Das Land hat darauf zwar reagiert, indem nun auch Fachkräfte in Multiprofessionellen Teams sowie Lehrkräfte der Sekundarstufe I die sonderpädagogische Förderung an den Regelschulen übernehmen können. Die Praxis zeigt allerdings, dass die fehlende sonderpädagogische Expertise vor Ort in den Schulen durch diese Maßnahme nicht ersetzt werden kann – auch wenn sie für die akute Problemlage durchaus richtig ist.
... und führt zu höherem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf bei Schüler*innen
Erschwerend hinzu kommt außerdem der ohnehin bestehende massive Lehrkräftemangel an Regelschulen, durch den eine angemessene inklusive Beschulung zusätzlich beeinträchtigt wird. Hier liegt wahrscheinlich auch einer der Gründe für die ansteigende Zahl von Kindern mit einem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf, wie ein vom NRW-Ministerium für Schule und Bildung beauftragtes und 2024 vorgestelltes Gutachten zum Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung nahelegt.
Dort wird darauf hingewiesen, dass es den Regelschulen aufgrund der fehlenden (personellen) Ressourcen oft nicht gelingt, Kinder und Jugendliche angemessen zu fördern. Diese teilweise fehlende Förderung kann dazu führen, dass mehr Kinder und Jugendliche einen sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf entwickeln beziehungsweise, dass vermehrt Feststellungsverfahren eingeleitet werden, da eine Förderung unter den gegebenen Rahmenbedingungen nicht möglich erscheint.
Auch wenn das Land in den vergangenen Jahren die Zahl der Studienplätze für Sonderpädagogik erhöht hat und inzwischen den Quereinstieg ermöglicht, bedarf es hier einer weiteren großen Kraftanstrengung, um mehr Sonderpädagog*innen für die Förderung der Kinder und Jugendlichen zu gewinnen und Lehrkräfte zu unterstützen. Zudem muss auch das Lehramtsstudium insgesamt in den Blick genommen werden, um Lehrkräfte besser auf das Gemeinsame Lernen vorzubereiten.
Oft wird die Forderung laut, die Förderschulen abzuschaffen, um die Inklusion zu stärken. Das würde das Problem der Inklusion derzeit jedoch nicht lösen. Vielmehr muss für eine gelingende Inklusion unser gesamtes Schulsystem in den Blick genommen und kritisch hinterfragt werden. Aus Sicht der GEW NRW müssen für eine gelingende Inklusion gerade die Schulen, die längeres Gemeinsames Lernen ermöglichen, systematisch unterstützt und ausgebaut werden. Gleichzeitig bleibt Inklusion eine gemeinsame Aufgabe aller Schulformen. Gerade in der aktuellen Situation werden Förderschulen auch weiterhin benötigt, um allen Kindern und Jugendlichen ein angemessenes Förderangebot machen zu können.
Kleinere Klassen und eine bessere Schüler*innen-Lehrkräfte-Relation
Weitere echte Verbesserungen der Rahmenbedingungen im Gemeinsamen Lernen sieht die GEW NRW in einer Rechtsverbindlichkeit von kleineren Klassenbildungsrichtwerten sowie einer besseren Schüler*innen-Lehrkräfte-Relation. Die 2018 in den Eckpunkten zur Neuausrichtung der Inklusion für den Bereich der Sekundarstufe I festgelegte Formel „25 – 3 – 1,5“ muss zum Beispiel verlässlich und rechtsverbindlich umgesetzt werden.
Demnach sollte es in einer Klasse mit 25 Kindern, von denen drei einen Unterstützungsbedarf haben, eine zusätzliche halbe Stelle zur Förderung geben. Das, kombiniert mit einer Verbesserung der Personalressource, wäre ein enorm wichtiger Schritt, um die Inklusion in unseren Schulen voranzubringen und zu stärken. Inklusion darf nicht weiter vor allem vom Idealismus der Beschäftigten abhängen. Daher fordert die GEW NRW auch eine gute Förderung und gute Arbeitsbedingungen an allen Förderorten.
Ziele für die Umsetzung von Inklusion benennen sowie die Verantwortung und Finanzierung regeln
Zusammenfassend lässt sich sagen: NRW hat sich auf den Weg gemacht, Inklusion an Schulen umzusetzen. Das Ministerium für Schule und Bildung hat Maßnahmen ergriffen, beispielsweise Leitlinien für das Gemeinsame Lernen veröffentlicht, in denen die Rolle und die Aufgaben von Sonderpädagog*innen und Regelschullehrkräften in der Inklusion klar definiert werden. Es hat hier und da nachjustiert, überprüft derzeit die Gutachtenpraxis zur Feststellung eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs und stellt einige weitere inhaltliche Hilfen online zur Verfügung.
Aber ist NRW auf einem guten Weg bei der Umsetzung des Gemeinsamen Lernens? Nein! Es fehlt weiterhin an einem echten Plan, der klare Ziele benennt, guten inklusiven Unterricht mit verbindlichen Qualitätsstandards sichert, eine ausreichende Ressourcenausstattung garantiert sowie Verantwortungen und Finanzierungen regelt. Erst damit wären wir endlich nicht nur auf dem Weg, sondern hätten einen Meilenstein für ein flächendeckendes, gut ausgestattetes inklusives Schulangebot für alle Kinder und Jugendlichen gesetzt.







