lautstark. 27.06.2025

Demokratiebildung beim Mittagessen

Offene GanztagsschuleGrundschulePolitische BildungChancengleichheit

Forschungsprojekt an Ganztagsgrundschulen

Kann das Mittagessen im Offenen Ganztag ein Ort sein, an dem Kinder demokratische Kompetenzen lernen? Dieser Frage ist Katharina Gosse, Professorin für Kinder- und Jugendhilfe an der Hochschule Düsseldorf, in einem Forschungsprojekt nachgegangen.

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  • Ausgabe: lautstark. 03/2025 | Digitalisierung in Schule: Zeit für eine neue Lernkultur
  • Autor*in: Prof. Dr. Katharina Gosse
  • Funktion: Professorin für Kinder- und Jugendhilfe an der Hochschule Düsseldorf
Min.

Die demokratische Bildung hat in den vergangenen Jahren in der Kinder- und Jugendhilfe konzeptionell immer mehr an Bedeutung gewonnen. Weniger beachtet wird sie jedoch bislang im Offenen Ganztag der Grundschulen (OGS) – und das, obwohl dieser überwiegend durch Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe verantwortet wird. Diese Lücke war der Ausgangspunkt für ein Forschungsprojekt, bei dem auf der Grundlage von teilnehmenden Beobachtungen das OGS-Mittagessen untersucht wurde. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob und inwieweit es als Vermittler alltagsweltlicher demokratischer Bildung fungieren könnte. Also, ob sich das OGS-Mittagessen eignet, um die politische Handlungsfähigkeit von Kindern zu fördern, etwa indem sie ermutigt und befähigt werden, ihre Interessen zu artikulieren, eigene Positionen zu entwickeln oder Kompromisse zu finden. 

Das Mittagessen wurde dabei als Untersuchungsgegenstand ausgewählt, weil es zum einen beispielhaft für die Möglichkeiten im außerunterrichtlichen Bereich generell steht und zum anderen weil die Tischmahlzeit als ein politischer Ort verstanden werden kann, da bei ihr miteinander gesprochen wird, möglicherweise auch über Themen wie Lebensverhältnisse, Individualität oder Differenz. Durchgeführt wurde die Untersuchung in drei Grundschulen in einer nordrhein-westfälischen Großstadt, bei denen der Ganztag durch Träger der Kinder- und Jugendhilfe verantwortet wird. In jeweils einer OGS-Gruppe der drei Grundschulen wurden in der Zeit der Mittagsverpflegung die Interaktionen zwischen den Kindern und den pädagogischen Mitarbeiter*innen protokolliert. Konkret ging es dabei um folgende Fragen:

  • Wer kommt wie zusammen?
  • Welche Themen werden durch verbale und nonverbale Kommunikation behandelt?
  • Inwieweit beeinflussen Erziehungsinterventionen durch die Mitarbeiter*innen die Möglichkeiten der demokratischen Bildung?

Raumnot, Lärm und Zeitmangel verhindern die Vermittlung von demokratischer Bildung

Die Auswertung der Beobachtungen macht deutlich, dass die Rahmenbedingungen des OGS-Mittagessens ausgesprochen hinderlich sind für die Vermittlung von demokratischer Bildung. Zu nennen sind hier beispielsweise die Zeitressourcen. In allen drei Institutionen sind für das Mittagessen lediglich 30 bis 40 Minuten vorgesehen, und zwar zwischen dem Unterrichtsende und der anschließenden Hausaufgaben- beziehungsweise Lernzeit. In diese Zeit fällt somit auch das Ankommen der Kinder aus dem Schulsetting in den Ganztag. Während des Essens bleibt deshalb faktisch kaum Gelegenheit, miteinander zu sprechen, zu diskutieren oder Interessen auszuhandeln.

Insbesondere in zwei der drei untersuchten OGS-Gruppen kommen noch weitere hinderliche Rahmenbedingungen hinzu. Dies betrifft zum einen die Raumsituation. Eine Mensa gibt es nicht, sodass relativ kleine Klassenräume für die Mittagsverpflegung genutzt werden müssen. Da hier keine Küchenzeilen vorhanden sind, wirken die Arrangements provisorisch. Die Essensausgaben müssen jeden Tag neu installiert werden. Zum anderen sind die Gruppen relativ groß, es sind immer zwischen 21 und 30 Kinder gleichzeitig anwesend. Raum- und Gruppengröße führen zu einer für das Mittagessen ausgesprochen nachteiligen Akustik. Unter diesen erschwerten Bedingungen sind die Mitarbeiter*innen, es sind zumeist zwei, ausschließlich damit befasst, die Funktion der Mittagsverpflegung – das Sattwerden der Kinder – zu organisieren. 

Die verbale Kommunikation gestaltet sich entsprechend eher direktiv. Die OGS-Beschäftigten stehen an der Essensausgabe oder bewegen sich zwischen den Tischen und organisieren den Ablauf überwiegend durch Aufforderungen oder Zurechtweisungen. Daneben sind in beiden Ganztagen Erziehungsinterventionen nachzuvollziehen, die auf das adäquate Verhalten beim Essen zielen, auf die Hygiene oder die sogenannten Tischmanieren. Spezielle Maßnahmen, um das Mittagessen als Ort demokratischer Bildung zu gestalten, finden sich nicht. Die kurzen Augenblicke, in denen der Ablauf nicht organisiert werden muss, nutzen die Erwachsenen, um eigenen Bedürfnissen nachzugehen, etwa um selbst etwas zu essen, einen Augenblick zu verweilen oder um mit der Kollegin zu sprechen.

Etwas anders verhält es sich in der dritten OGS. Die Rahmenbedingungen sind hier günstiger. Die Ausstattung mit einer Küchenzeile erleichtert die Essensorganisation. Zudem kommen die Kinder aufgrund des Unterrichtskonzepts zeitversetzt im Essraum an, sodass hier lediglich zwischen 14 und 21 Kinder gleichzeitig anwesend sind. Das macht einen großen Unterschied, denn die Kinder werden seltener zur Ruhe ermahnt. Die erzieherischen Interventionen beziehen sich überwiegend auf einen „gesitteten Ablauf“, beispielsweise indem die Kinder angehalten werden, ordentlich am Tisch zu sitzen. 

Spezielle konzeptionelle Maßnahmen von OGS-Beschäftigten, um das Mittagessen als Ort demokratischer Bildung zu gestalten, sind in geringem Umfang nachvollziehbar. Beispielsweise werden die Kinder in die Gestaltung einbezogen, indem sie den Beginn ansagen dürfen. Auch ist das Team darum bemüht, dass immer einer der beiden Erwachsenen mit an einem Tisch sitzt, „um ein offenes Ohr für die Kinder anbieten zu können.“ Oft entsteht dann ein ungezwungenes Plaudern, das zwar Spielraum für Gespräche und Diskussionen lässt, allerdings bleiben die Themen eher unverfänglich. Fragen zu Lebensverhältnissen, Differenzen oder ähnlichen Themen werden in der Flüchtigkeit des Mittagessens selten vertieft.

Sozioökonomischer Status gibt Aufschluss über unterschiedliche Gestaltung der OGS-Mittagessen

Diese Unterschiede zwischen zwei der Ganztags-Mittagessen auf der einen und dem dritten auf der anderen Seite sind allerdings nicht abschließend mit den Rahmenbedingungen zu erklären. Im dritten Ganztag fällt zudem auf, dass die Umgangsweisen zwischen den Erwachsenen und den jungen Menschen egalitärer sind, auch weil sich die Kinder adäquater zu den mittelschichtorientierten Anforderungen verhalten. Sie decken beispielsweise selbstständiger die Tische. Diese Beobachtung wirft ein Licht auf den sozioökonomischen Status. Hinweise dazu finden sich im Sozialindex der jeweiligen Schulen. 

Die beiden Ganztage mit den schlechteren Bedingungen verfügen über eine Indexstufe von 8 beziehungsweise 9. Der dritte Ganztag, der mehr Spielraum für demokratische Bildung lässt, hat den Wert 2. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts offenbaren somit, dass das Ziel des Sozialindexes, benachteiligte Kinder verstärkt zu unterstützen, bislang nicht erreicht wird beziehungsweise dass die daran geknüpften Mittel nicht im Ganztag ankommen. Das bedeutet, die bereits bestehende soziale Ungleichheit wird hinsichtlich der Förderung von politischer Handlungsfähigkeit beim Mittagessen nicht nur nicht ausgeglichen, sondern sogar weiter verstärkt.

Möglichkeiten und Grenzen eines demokratischeren Mittagessens

Das Forschungsprojekt kommt somit insgesamt zu dem Ergebnis, dass das Mittagessen im Offenen Ganztag überwiegend ausschließlich der Funktionserfüllung dient. Diese konzeptionelle Leerstelle ist allerdings nicht den ausführenden Mitarbeiter*innen anzulasten. Vielmehr müssen diese unter sehr schlechten Rahmenbedingungen agieren, sodass sich hier die Unterfinanzierung des außerunterrichtlichen Bereichs an Grundschulen offenbart. Diese Problematik ist bekannt und eine (kurzfristige) Verbesserung nicht in Sicht. Um die Mittagessen im Sinne des Forschungsprojektes besser zu gestalten, können möglicherweise – wie es vielerorts bereits gemacht wird – offenere Konzepte für die Mittagsverpflegung aushelfen. Wenn die Kinder innerhalb eines Zeitfensters selbst entscheiden können, wann sie essen gehen, wird die Enge bestenfalls entzerrt und die Mitarbeiter*innen haben zumindest etwas mehr Möglichkeiten, die jungen Menschen zu fördern und zu unterstützen, eben auch im Hinblick auf ihre politische Handlungsfähigkeit. Dieses Interesse wurde am Rande der teilnehmenden Beobachtungen auch immer wieder von den OGS-Beschäftigten geäußert. 

Umfrage der GEW NRW zum Ganztag

Was bewegt die Beschäftigten im Offenen Ganztag sowie an Grundschulen in ihrem Arbeitsalltag, bezogen auf den Rechtsanspruch auf Ganztag? Um das herauszufinden, startete die GEW NRW im Mai und Juni 2025 die Umfrage GEHT GANZ SO? 

Mit Blick auf den Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz für Grundschulkinder ab dem Schuljahr 2026 / 2027 wird sich die ohnehin angespannte Situation im Offenen Ganztag weiter zuspitzen. Aus diesem Grund möchte die GEW NRW mit ihrer Umfrage GEHT GANZ SO? herausfinden, wie Beschäftigte ihre Arbeit erleben. Was läuft gut? Wo genau liegen die aktuellen Problematiken? Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Beschäftigtengruppen in der Schule und OGS aus und was braucht es, um einen guten Ganztag für alle zu schaffen? Was die Teilnehmer*innen auf diese Fragen geantwortet haben und welche Forderungen die GEW NRW aus den Umfrageergebnissen ableitet, erfährst du im September 2025. Klar ist schon jetzt: Die GEW NRW wird die Verantwortlichen in Politik und Ministerien in die Pflicht nehmen, sich endlich für einen guten Ganztag einzusetzen und die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür zu schaffen!

Joyce Abebrese
Expertin der GEW NRW für Jugendhilfe und Sozialarbeit

Hier geht es zur OGS-Umfrage der GEW NRW – jetzt mitmachen: GEHT GANZ SO?