

Der Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen hängt in Deutschland noch immer stark von der sozialen Herkunft ab. Mit dem Startchancen-Programm soll sich dies ändern: Ziel ist es, mehr Chancengerechtigkeit zu erreichen. Besonders die Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen sowie die soziale und emotionale Kompetenz sollen gestärkt werden. Insgesamt erhalten circa 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schüler*innen die Förderung. In Nordrhein-Westfalen sind über 900 Schulen dabei. Zum Schuljahr 2024 / 2025 sind die ersten 400 von ihnen in das Programm gestartet, weitere rund 500 folgen zum nächsten Schuljahr.
Expert*innenforum Startchancen: Wissen, Impulse, Austausch
Einem Programm dieser Größenordnung geht eine lange Konzeptionsphase voraus. Neu ist die frühe Einbeziehung von Expert*innen: Das Expert*innenforum Startchancen wurde bereits 2022 von der Robert Bosch Stiftung und dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) ins Leben gerufen. „In der Regel gibt es bei bildungspolitischen Projekten dieser Größenordnung keinen unabhängigen Raum, um inhaltliche Fragen zu diskutieren und Fachwissen auszuschöpfen. Wir wollten diesen Raum durch eine Expert*innenrunde schaffen. Nachdem dies beim Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung erfolgreich war, konnte es wieder umgesetzt werden“, erklärt Projektleiter Michael Wrase vom WZB. „Ziel ist es, alle Akteur*innen zu vernetzen. Besonders wertvoll war es, dass wir bereits in der Entstehungsphase Workshops hatten, um gemeinsam über Grundfragen des Programms nachzudenken.“ Die Treffen bestehen aus einem Inputteil und Workshops, in denen an Themen wie der lernförderlichen Umgebung gearbeitet wird. Auch konkrete Beispiele werden gezeigt: „So haben wir geschaut, wie die datengestützte Schulentwicklung in Kanada läuft“, erinnert sich Michael Wrase. Neben dem Austausch und der Diskussion werden Handlungsempfehlungen entwickelt. Die Ergebnisse werden in Dossiers und auf dem eigenen Blog veröffentlicht.


Startchancen-Programm Auf einen Blick
- Mit dem Startchancen-Programm sollen insgesamt 4.000 allgemein- und berufsbildende Schulen mit einem hohen Anteil an sozioökonomisch benachteiligten Schüler*innen gefördert werden.
- Im August 2024 sind die ersten 2.125 ausgewählten Schulen gestartet und werden zu sogenannten Startchancen-Schulen. Bis 2027 sollen weitere folgen, sodass insgesamt rund 4.000 Schulen von dem Programm profitieren.
- Ziel ist es, den Bildungserfolg von der sozialen Herkunft zu entkoppeln.
- Die Laufzeit von zehn Jahren begann im August 2024.
- Ein messbares Ziel soll es sein, den Anteil der Schüler*innen zu halbieren, die die Mindeststandards in den Basiskompetenzen nicht erreichen.
Ursprünglich als kleiner Kreis geplant, entwickelte sich das Forum schnell zum zentralen Austauschformat. „In der sechsten Runde waren vor Ort und online über 400 Personen dabei – von Schulvertreter*innen über Träger, Stiftungen und Ministerien. Dadurch landen Impulse direkt bei den richtigen Ansprechpartner*innen und fließen in die weitere Programmentwicklung ein“, berichtet Michael Wrase. In der Frage, ob das Startchancen-Programm die Chancengerechtigkeit im deutschen Bildungssystem verbessern wird, ist sich der Experte mit Blick auf die zahlreichen Perspektiven sicher: „Es ist kein Allheilmittel, dafür sind es zu wenige Schulen. Bildungsgerechtigkeit braucht mehr: frühkindliche Förderung, dauerhafte Programme und klare Verantwortlichkeiten.“
Um diesen Weg mitzugestalten, wird das Expert*innenforum seine Arbeit fortsetzen: „Nach den sechs Runden sollte Schluss sein, doch wir wollen den Austausch weiter gewährleisten. Das nächste Forum ist für den Herbst 2025 geplant“, sagt der Projektleiter. Bis dahin stehen Themen wie die Pflege des Blogs, die Erstellung wissenschaftlicher Expertisen zu aktuellen Fragen und der Aufbau eines Schulleitungsnetzwerks auf der Agenda.
Libellen-Grundschule in Dortmund: Sprach- und Leseförderung im Fokus
Viel auf der To-do-Liste hat auch Christiane Mika, Schulleiterin der Libellen-Grundschule im Norden Dortmunds. Mit einem Sozialindex von 9 und 96 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund besucht eine heterogene Schüler*innenschaft die Einrichtung. Fast alle Kinder sprechen mindestens zwei Sprachen, viele sind erst in den vergangen Jahren nach Deutschland gekommen. „Aufgrund unseres hohen Sozialindex wurden wir von der Schulaufsicht – wie alle anderen Grundschulen im Dortmunder Norden – ins Programm aufgenommen“, erklärt Christiane Mika.
Nach dem noch frischen Start freut sich die Schulleiterin besonders über die Prozessgestaltung: „Erst mal stand eine Analyse, an welchen Stellen wir die Mittel sinnvoll einsetzen können, auf der Liste. Unser Gebäude wurde gerade erst komplett überplant und aufgestockt, bauliche Maßnahmen benötigen wir erst mal nicht.“ Deshalb ist Christiane Mika dankbar für einen gewissen Gestaltungsspielraum: „Wir erhalten viel kommunale Unterstützung, um die Maßnahmen für uns passend umzusetzen. Das Bildungsbüro unserer Stadt macht das vorbildlich: Alle Beteiligten sind um maximale Flexibilität bemüht.“
Unterstützungsbedarf gibt es genug: „Besonders im Bereich der Basiskompetenzen der Kinder zeigen sich zahlreiche Herausforderungen. „Deshalb haben wir über die Programmmittel gerade zum 1. Juni 2025 eine sozialpädagogische Fachkraft für die Schuleingangsphase eingestellt, die insbesondere im Bereich der gezielten Leseförderung eingesetzt werden soll“, erzählt Christiane Mika. Auch die Bücherei wurde aufgestockt. „Über unser Kinderparlament haben die Kinder Bücherwunschlisten abgeben und die Bibliothek mitgestaltet.“ Weiterhin sollen vier Minijobs für die 1:1-Leseförderung an Mütter vergeben werden.
Ob das Programm dazu beitragen wird, Chancengerechtigkeit zu fördern? „Da bin ich sehr skeptisch“, sagt Christiane Mika ganz klar. „Denn die Kita und damit der Bereich der frühen Förderung wurde im Programm nicht berücksichtigt. Gerade dies ist aber für die Sprachbildung von extrem hoher Bedeutung.“ Das Resümee der Schulleiterin, was es für eine Veränderung braucht, ist eindeutig: „Nicht nur an Grundschulen mit hohem Sozialindex brauchen wir mehr Zeit für die Kinder, dazu gehört insbesondere die Ganztagsschule mit entsprechenden Qualitätsstandards.“
Berufskolleg Ehrenfeld in Köln: Schulsozialarbeit als wichtigstes Mittel
Neben einem starken Fokus auf Grundschulen werden Berufskollegs wie das in Köln-Ehrenfeld im Startchancen-Programm gefördert. Auch hier bestimmt eine sehr heterogene Schüler*innenschaft das Bild der Schule: „Nicht wenige unserer 2.700 Schüler*innen kommen aus schwierigen Familienverhältnissen, kennen finanzielle Not, Arbeitslosigkeit, Fluchterfahrung, einige sogar Obdachlosigkeit. Nicht selten sind Schulkarrieren bisher mit Brüchen verlaufen. Unser Berufskolleg bietet in 25 Bildungsgängen noch eimal viele neue Chancen der Qualifikation und Berufsausbildung“, beschreibt Schulleiter Johannes Segerath die Situation.
Die Schulsozialarbeit bildet vor diesem Hintergrund eine tragende Säule im Schulalltag. Im ersten Schritt stellte die Schule zum 1. Dezember 2024 über die Programmmittel einen Schulsozialarbeiter in Vollzeit ein. „Ein Lottogewinn für uns, denn es gibt aktuell nur wenige Arbeitskräfte auf dem Markt“, so Johannes Segerath. „Wir konnten durch diesen weiteren Kollegen die Angebote zur Stärkung der Sozialkompetenz oder Berufswahlkompetenz ausbauen. Da viele Schüler*innen mit Motivationsproblemen, fehlenden Perspektiven und ihrer schwierigen persönlichen Situation kämpfen, ist diese Unterstützung sehr wichtig.“
Auch Ideen zur weiteren Mittelverwendung gibt es: Eine Mathe- und Schreibsoftware soll angeschafft und ein dringend benötigter Beratungs- und Berufsorientierungsraum eingerichtet werden. Die Umsetzung lässt auf sich warten: „Die Genehmigungen fehlen bisher. Der Antrag für den Umbau liegt bei der Stadtverwaltung“, sagt Johannes Segerath. „Ich habe jedoch Zweifel, ob das realisiert werden kann. Es gibt auf der Seite des Schulträgers so viele bauliche Notwendigkeiten, plus 30 Jahre Rückstand im Bau und Sanierung.“ Auch die Vorgabe der Kofinanzierung durch den Schulträger hemmt. Sven Sebetzky, Abteilungsleiter der Ausbildungsvorberitung, ergänzt: „Wir empfinden den bürokratischen Aufwand als hoch, die Prozesse gestalten sich dadurch langsam. Ob Fortbildungen oder die Klärung, wer den digitalen Arbeitsplatz des Schulsozialarbeiters finanziert – die Genehmigungen dauern Monate.“
Größter Kritikpunkt ist aus Sicht des Berufskollegs die Einschränkung der Mittel auf den Bereich der Ausbildungsvorbereitung. „Da gab es viel Enttäuschung, da es nicht von Anfang an so kommuniziert wurde. Mit der Summe von 14.000 Euro kaufen wir jetzt Lehrkräftefortbildung, digitale Apps für circa 200 von 2.700 Schüler*innen. In der Praxis müssen wir auf die klare Abgrenzung der Maßnahmen zu den anderen Bildungsbereichen an unserer Schule achten – ein Balanceakt. Und für eine grundsätzlich verbesserte Chancengerechtigkeit reicht dies nicht, da auch die anderen Schüler*innen hohen Unterstützungsbedarf haben.“
Das Fazit zum Programm von Johannes Segerath und Sven Sebetzky fällt gemischt aus: „Die Zielsetzung ist gut, aber die Handelnden hätten noch früher ins Boot geholt werden müssen. Wir befürchten, dass sich die Prozesse noch schwieriger gestalten, wenn die nächsten Schulen mit ins Programm kommen. Schulentwicklung sollte endlich vom Ende her gedacht werden.“


GEW NRW sieht Gute Ansätze, aber viel Verbesserungspotenzial
Das Startchancen-Programm soll dazu beitragen, die Bildungs- und Chancengerechtigkeit langfristig und nachhaltig zu verbessern. Wie die GEW NRW den bisherigen Erfolg bewertet, berichtet Ayla Çelik, Vorsitzende der GEW NRW.
Wie schätzt die GEW NRW den Erfolg des Startchancen-Programms seit dem Start im August 2024 ein?
Ayla Çelik: Bislang überwiegen die Ankündigungen gegenüber der konkreten Umsetzung – viele Schulen warten weiterhin auf ihre Aufnahme in das Programm. Positiv ist: Es handelt sich erstmals um ein langfristig angelegtes Förderprogramm, das Bund, Länder und Kommunen gemeinsam verantworten. Das ist richtig und wichtig, da nachhaltige Bildungsreformen nur so Wirkung entfalten können. Die Drei-Säulen-Struktur des Programms (→ Abbildung 1) bietet eine geeignete Grundlage, um Basiskompetenzen gezielt zu stärken. Zudem stellt die teilweise Mittelvergabe nach Sozialindex eine wichtige Weiterentwicklung dar. Damit ist ein erster Schritt in Richtung sozial gerechter Bildungsfinanzierung gemacht. Ob das Programm tatsächlich zu mehr Chancengleichheit in der Fläche führt? Letztlich wird es auf die weitere Ausgestaltung ankommen.
Was sind die Kritikpunkte der Bildungsgewerkschaft?
Ayla Çelik: Die GEW NRW begrüßt grundsätzlich den Ansatz des Startchancen-
Programms, kritisiert aber seine begrenzte Reichweite und fehlende Verbindlichkeit. Nur rund 4.000 Schulen bundesweit profitieren davon, während viele andere mit ähnlichen Herausforderungen leer ausgehen. Das widerspricht dem Prinzip der Bildungsgerechtigkeit. Wir fordern eine flächendeckende Förderung, die sich an einem schulscharfen Sozialindex orientiert. Bildungserfolg darf weder von der Herkunft noch von der Finanzkraft der Eltern oder der Kommune abhängen. Mein Fazit ist: Bildungsgerechtigkeit erfordert keine gleichmäßige Verteilung, sondern eine gezielte bedarfsorientierte Unterstützung.
Und wie steht die GEW NRW zur Finanzierung des Programms?
Ayla Çelik: Erstmals werden die Finanzmittel nicht nach Länderfinanzkraft – dem Königsteiner Schlüssel – vergeben. Das ist gut, doch bestehende Landesprogramme auf den Eigenanteil anzurechnen, finden wir höchst problematisch. So entstehen keine echten zusätzlichen Investitionen. Angesichts des hohen Bedarfs und eines bundesweiten Sanierungsstaus von 45 Milliarden Euro fordern wir eine deutlich höhere, langfristig gesicherte Finanzierung und die Verstetigung wirksamer Maßnahmen nach Evaluation.
Die Fragen stellte Denise Heidenreich.
freie Journalistin