„Krisenmodus“ wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2023 gewählt. Trifft das die aktuelle Situation auch für junge Menschen?
Elisabeth Raffauf: Krisenmodus ist ein erwachsenes Wort, das nicht unbedingt auch für junge Leute zutrifft. Wenn wir auf Jugendliche schauen, haben diese auch Krisen, sie würden aber vielleicht eher davon reden, dass sie „im Stress“ sind. Erwachsene im Krisenmodus geben manchmal – vielleicht gar nicht bewusst – das Problem an junge Menschen weiter, das ist nicht besonders ermutigend. Wichtiger ist es, zu lernen, wie man mit Krisen umgehen kann. Wenn man das schafft, kann man auch gestärkt aus einer Krise herauskommen.
In Zeiten multipler Krisen: Wie sehen Kinder und Jugendliche in ihre Zukunft? Sind sie optimistisch?
Elisabeth Raffauf: Kinder und Jugendliche sehen ihre Zukunft sehr unterschiedlich. Das hängt von verschiedenen Faktoren ab. Sind sie mit einer tragfesten Bindung aufgewachsen? Haben Eltern und Lehrer*innen ihnen das Gefühl vermittelt, dass sie selbst etwas bewirken und gestalten können? Haben sie positive Ausblicke? Oder haben sie in der Vergangenheit erlebt, dass sie nichts ausrichten können, dass über sie hinweg bestimmt wird, dass ihre Meinung nichts gilt?
Wichtig für den Blick auf die Zukunft ist auch, welche Vorbilder Kinder und Jugendliche haben. Entscheidend ist dabei, ob die Erwachsenen, an denen sie sich orientieren, optimistisch oder mutlos in die Zukunft schauen. Dementsprechend sind einige Kinder und Jugendliche optimistisch, andere nicht.
Wie kann man als Erwachsener optimistisches Vorbild sein?
Elisabeth Raffauf: Das hängt in großem Maße von der Lebenssituation der Erwachsenen ab. In meinen Gruppen für Eltern pubertierender Jugendlicher kommt manchmal die Frage auf: Wie sollen wir Jugendliche positiv in die Welt schicken, wenn wir selbst mutlos sind? Ein Rat ist, als Erwachsener zu schauen,wie es einem selbst geht, was einem Mut macht, neben das, was schwierig ist, etwas zu stellen, das positiv ist. Es ist im Leben nicht ein Entweder-oder, sondern ein Und. Es gibt Schwierigkeiten und es gibt positive Dinge, Gesundheit, die Familie – das muss man auch sehen.
Welche Ziele und Visionen haben junge Menschen?
Elisabeth Raffauf: Auch das ist vielfältig und verschieden. Manche Jugendliche möchten ein YouTube-Star werden, manche möchten etwas verändern und die Welt retten. Viele suchen eine sichere Beziehung und einen sicheren Ort. Einige Jugendliche haben aber auch keine Idee, wohin es gehen könnte, manche wissen nicht einmal, wie sie den nächsten Schritt gehen könnten. Aktuell schätzen nach neuesten Studien aber viele Jugendliche ihre Berufsaussichten gut ein. Es gibt natürlich auch Jugendliche, die sich für viele Themen interessieren und sich vor lauter Möglichkeiten nicht entscheiden können.
Wie können Eltern und Lehrer*innen die planlosen Jugendlichen der Generation Pause auf den richtigen Weg bringen?
Elisabeth Raffauf: Es gibt viele junge Menschen, die nicht wissen, was sie nach der Schule machen sollen. Als Eltern ist es wichtig, ihnen zu vermitteln: „Du musst das vielleicht jetzt noch nicht wissen, aber wichtig ist, dass du etwas ausprobierst.“ Das Einzige, was nicht geht, ist nichts zu machen. Auch wenn man ausprobiert, lernt man, was das Richtige und was das Falsche ist.
Erfahrungen können Jugendliche auch sammeln, wenn sie beispielsweise erst einmal nur jobben. Oder ein Soziales Jahr machen – das würde ich mir übrigens für alle jungen Menschen wünschen. Wenn man nichts macht und nur zu Hause ist, dreht man sich in eine Spirale der Perspektivlosigkeit. Wenn es um Pläne für Beruf und Ausbildung geht, dürfen Eltern durchaus Perspektiven aufzeigen und Vorschläge machen. Sich mit den Jugendlichen zusammenzusetzen und Ideen zu äußern, heißt natürlich nicht, ihnen etwas vorzuschreiben und sie zu bevormunden.
Haben Jugendliche Zukunftsängste? Um welche Themen ranken sich ihre Sorgen und Ängste?
Elisabeth Raffauf: Freundschaften, familiäre Beziehungen, Zeugnisse, das Ende der Schulzeit, Berufswahl, Klimawandel oder Krieg sind Themen, um die sich die Ängste von Kindern und Jugendlichen ranken. Sie fragen sich: Wie geht es weiter nach der Schule? Wo ist mein Platz in der Welt? Werde ich mein Leben schaffen? Sie sorgen sich auch in jungem Alter schon um die Welt. Unter den großen Krisen, mit denen die Menschen derzeit zu tun haben, rangiert bei Jugendlichen die Sorge um das Klima an erster Stelle.
Ist es da ein geeignetes Ventil, als Klimakleber aufzutreten?
Elisabeth Raffauf: Es gibt verschiedene Studien, die belegen, dass das Klima die größte Sorge ist. Wenn junge Menschen sich aus Protest auf die Straße kleben, muss man unterscheiden zwischen ihrem Anliegen und der Art, wie es ausgedrückt wird. Das Anliegen ist verständlich, es zeigt, dass es eine große Sorge gibt. Und die Jugendlichen haben nicht das Gefühl, dass diese Probleme von den Erwachsenen angegangen werden. Ihr Protest ist auch ein Ausdruck ihrer Hilflosigkeit.
In welchen Lebensphasen sind Kinder und Jugendliche besonders empfänglich für Zukunftsängste?
Elisabeth Raffauf: In den Übergangsphasen gibt es vermehrt Probleme mit großen Ängsten. Dazu gehört die Pubertät – der Übergang vom Kind zum Erwachsenen. Aber auch der Übergang von der Schule in eine Ausbildung oder ein Studium und von der Ausbildung in den Beruf.
Wie äußern sich Zukunftsängste bei Kindern und Jugendlichen?
Elisabeth Raffauf: Auch das ist natürlich sehr unterschiedlich. Manche zweifeln, weil sie das Gefühl haben, das Leben nicht zu schaffen – obwohl sie vielleicht gut in der Schule sind und nach außen ein geordnetes Elternhaus haben. Manche ziehen sich zurück und werden vielleicht sogar depressiv oder verletzen sich selbst. Dazu muss man sagen: Wenn es dazu kommt, sind Zukunftsängste vielleicht ein Grund, aber in der Regel nicht der einzige. Andere machen sich auf, etwas gegen die Ohnmacht zu tun. Sie engagieren sich, etwa bei "Fridays for Future" oder einer anderen Organisation.
Manche suchen auch Halt in Internetgruppen. Einige suchen einfach Ablenkung – vor allem im Internet–, weil der Zugang so leicht ist, weil dort vermeintlich Gleichgesinnte zu finden sind, weil man sich dort als selbstwirksam fühlen kann.
Wie können Pädagog*innen Kinder und Jugendliche stärken und ihren Ängsten begegnen?
Elisabeth Raffauf: Auf mindestens dreierlei Art und Weise. Sie können den Kindern und Jugendlichen Herausforderungen geben, die bewältigbar sind. So erleben die jungen Menschen sich selbst als wirksam. Pädagog*innen können zudem genau hinschauen und gucken, was braucht dieses Kind, diese*r Jugendliche? Wo hat er oder sie persönliche Stärken? Und drittens können Lehrer*innen und Erzieher*innen ermutigen. „Du wirst es schaffen. Ich glaube an dich. Es wird gut, auch wenn du die Klausur verhauen hast oder Umwege brauchst, um ans Ziel zu kommen“ sind wichtige Botschaften, die Optimismus verbreiten und Ängste nehmen.
Lektüretipps
Was Kinder und Jugendliche bewegt
Um einen Einblick zu erhalten, was Kinder und Jugendliche bewegt, empfiehlt Elisabeth Raffauf folgende Bücher:
- Elisabeth Raffauf, Günther Jakobs (Illustrationen)
"Wann ist endlich Frieden? Antworten auf Kinderfragen zu Krieg, Gewalt, Flucht und Versöhnung" Fischer SAUERLÄNDER, Frankfurt a. M. 2023, ab 7 Jahren - Luisa Neubauer, Dagmar Reetsma
"Gegen die Ohnmacht. Meine Großmutter, die Politik und ich"
Tropen, Stuttgart 2022