lautstark. 27.06.2025

Verstehen statt verbieten

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Problematische Mediennutzung bei Kindern und Jugendlichen

Das Internet, Smartphone, Social Media und Computerspiele sind Teil unserer Welt. Wie lernen Kinder und Jugendliche aber einen vernünftigen Umgang mit digitalen Medien und Angeboten? Dass dieser notwendig ist, zeigen alarmierende Zahlen der Studie „Problematische Mediennutzung bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland“.

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  • Ausgabe: lautstark. 03/2025 | Digitalisierung in Schule: Zeit für eine neue Lernkultur
  • Autor*in: Sherin Krüger
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

„Übermäßige Mediennutzung bei Kindern und Jugendlichen hat immer eine Geschichte“, sagt Kristin Langer, Medienpädagogin und Coachin bei der Initiative SCHAU HIN! Was Dein Kind mit Medien macht. „Nur, weil wir feststellen, dass Schulleistungen schlechter werden, muss noch keine Mediensucht einer*s Schüler*in dahinterstecken.“ Das kann auch Prof. Dr. Rainer Thomasius, Ärztlicher Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, bestätigen: „Eine pathologische Mediennutzung, sprich eine Mediensucht, oder eine riskante Mediennutzung wird anhand von der Weltgesundheitsorganisation WHO definierter Kriterien festgestellt.“ 

Dazu zählten der Kontrollverlust über die Frequenz und Intensität der Mediennutzung, die zunehmende Priorisierung gegenüber anderen Aktivitäten und die Fortführung des Medienkonsums trotz negativer Konsequenzen. „Und dieses Verhalten muss sich über einen Zeitraum von mindestens zwölf Monaten verstetigen“, sagt der Psychiater. Von dem pathologischen wird der riskante Mediengebrauch abgegrenzt: „Hier fällt der Zeitfaktor weg, die übrigen Kriterien bleiben dieselben. Ein kurzfristig erhöhter Medienkonsum wird also als riskant klassifiziert, wenn dadurch andere Aktivitäten des täglichen Lebens zu kurz kommen.“

Studie zu problematischem Medienkonsum weist alarmierende Zahlen auf

Als Teil des Diagnose-Katalogs der WHO definiert der ICD-11 – dem in Deutschland aktuell noch die formale Gültigkeit fehlt – die Kriterien für pathologischen und riskanten Medienkonsum genau. Die Längsschnittstudie Problematische Mediennutzung bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland des DZSKJ im Auftrag der DAK-Gesundheit zieht diese Kriterien heran. Im April 2025 wurden die Ergebnisse der siebten Erhebung veröffentlicht. „Die Summe des riskanten und pathologischen Medienkonsums haben wir im Begriff ,problematische Mediennutzung‘ zusammengefasst“, erklärt Rainer Thomasius, Projektleiter der Studie. Seit Beginn der Befragung von Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 10 und 17 Jahren sowie jeweils einem dazugehörigen Elternteil seien die Zahlen der Betroffenen alarmierend: 

2022 lag der Anteil der pathologischen Nutzer*innen von sozialen Medien bei 6,7 Prozent, in 2023 bei 6,1 und 2024 (Veröffentlichung 2025) bei 4,7 Prozent. „Dieser Anteil sinkt zwar, liegt aber noch nicht auf dem präpandemischen Niveau von 3,2 Prozent“, weiß Rainer Thomasius. „Bei den sozialen Medien ist die große Gruppe der riskanten Nutzer*innen besonders auffällig: Von ursprünglich 8,2 Prozent ist der Anteil bis August 2023 auf 24,5 Prozent angestiegen und erst in der letzten Erhebungswelle auf 21,1 Prozent zurückgegangen.“ Seit einigen Jahren weist rund ein Viertel der Befragten laut Studie ein problematisches Nutzungsmuster auf – das sind aktuell rund 1,3 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland. Neben den sozialen Medien betrachtet die Studie auch digitale Spiele und Video-Streaming.

Kinder und Jugendliche an altersgerechte Mediennutzung heranführen

Warum Kinder und Jugendliche an die Mediennutzung altersgerecht herangeführt werden müssen und warum es dabei unbedingt die Unterstützung der Erziehungs- oder Sorgeberechtigten und der Bildungsbeauftragten braucht, weiß Kristin Langer: „Die Internetwelt ist nicht für Kinder und Jugendliche gemacht. Sie ist eine Erwachsenenwelt. Also müssen wir altersgerecht die Beteiligung der einzelnen Gruppen so gestalten, dass sie damit gesund aufwachsen können, nicht überfordert werden und sich selbst nicht überschätzen.“ Die Mediencoachin unterstützt ratsuchende Erziehungs- und Sorgeberechtigte und gibt Fach- und Lehrkräftefortbildungen zur Medienerziehung. 

„Nach meiner Erfahrung ist ein riskanter Medienkonsum etwas, das zunächst die Eltern bemerken. Heranwachsende können dann zum Beispiel gedanklich immer mit Medien beschäftigt sein und total in dieser Welt versinken. Sie können sehr gereizt, traurig oder ängstlich wirken, wenn die gewünschte Mediennutzung nicht erfüllt wird. Sie können die Kontrolle über die Nutzungszeit verlieren und immer weitermachen, trotz ständiger Konflikte.“ Wenn eine Lehrkraft ein solches Verhalten über einen längeren Zeitraum beobachtet, kann sie auf unterschiedlichen Ebenen handeln. 

Der erste Weg führe dabei nicht direkt zu den Eltern oder der*dem Schüler*in selbst. Das funktioniere nur bei einem bestehenden Vertrauensverhältnis. „Besser ist es, die Peers einzubinden“, rät Kristin Langer. „Wenn es Medienscouts an der Schule gibt, sind sie eine sehr gute Anlaufstelle, um Mitschüler*innen unverbindlich auf einen drohenden riskanten Mediengebrauch anzusprechen. Lehrkräfte können sich außerdem Unterstützung in Multiprofessionellen Teams holen und auch mit externen Expert*innen kooperieren, um beispielsweise Elterninfoabende zu Medienthemen zu organisieren.“ 

Eltern benötigten Unterstützung wie diese unbedingt, da sie sich aufgrund der Komplexität der digitalen Welt oft überfordert fühlen, wissen beide Expert*innen. Laut DAK-Studie wünschen sich mehr als zwei Drittel der Eltern ein stärkeres Engagement von Schule und Staat im Bereich der Medienkompetenzförderung und des Jugendmedienschutzes. Nur knapp die Hälfte aller Eltern informiert sich regelmäßig über Onlinerisiken und Präventionsmaßnahmen – unabhängig vom Alter ihrer Kinder. 

Sozialisation spielt bei problematischer Mediennutzung eine entscheidende Rolle

Die Erziehungs- und Sorgeberechtigten spielen auch bei den Risikofaktoren eine große Rolle, wie Rainer Thomasius erklärt: „Die Medienkompetenz im Elternhaus ist essenziell: Wie verantwortungsvoll, aber auch wie kundig führen Eltern ihre eigenen Kinder an die Mediennutzung heran? Wie altersgerecht werden Vereinbarungen zu Nutzungsumfang und -inhalten getroffen? Wie ist das elterliche Vorbild in der Mediennutzung?“ Die Risikofaktoren sind gegliedert in personennahe Faktoren, Milieufaktoren sowie in Mittel beziehungsweise die medieneigenen Mechanismen. Jungen sind laut DAK-Studie und Praxiserfahrung im schulischen und ärztlichen Kontext häufiger betroffen als Mädchen – und dabei die 10- bis 14-jährigen noch einmal besonders stark. „Wenn es um die personennahen Faktoren geht, sehen wir bei den Betroffenen sehr früh ein erhöhtes Ausmaß an Stressvulnerabilität: Die Jugendlichen reagieren auf äußere Einwirkungen stärker als der Altersdurchschnitt mit Stressreaktionen, Anspannung, Unmut. 

Wir sehen, dass sie schon zu Beginn der Pubertät unter Ängstlichkeit oder Depressivität leiden und emotionale Dysregulation sowie Prokrastination keine Seltenheit sind“, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater. Gleichermaßen wichtig seien die Milieufaktoren: „Wir können feststellen, dass Kinder und Jugendliche mit ungünstigen Sozialisationserfahrungen und Eltern-Kind-Beziehungen besonders betroffen sind. Schon in den ersten drei bis vier Lebensjahren ist es essenziell, dass Eltern ihren Kindern vermitteln, dass sie es wert sind, auf dieser Welt zu sein und ihre Existenz von großer Bedeutung ist.“ Präpubertäre negative Lebensereignisse oder Traumata würden ebenfalls Einfluss nehmen.

Wirkweise von digitalen Angeboten verstehen und Medienverhalten bewusst steuern

Ob auf dem Smartphone oder am PC: Digitale Angebote setzen sogenannte Dark Patterns ein, das sind manipulative Designs oder Prozesse, um Nutzer*innen zu gewinnen oder zu halten. Medien würden sich da wenig von anderen Suchtstoffindustrien wie Cannabis, Tabak oder Alkohol unterscheiden: Es ginge immer um Gewinnspannen. „In Computerspielen locken Sonderangebote für Stärken oder Ausstattung, in den Social-Media-Kanälen Gewinnspiele oder Rabatte. Diese permanente Beschallung ist gewollt. Wenn ich das aber weiß,“ sagt Medienpädagogin Kristin Langer, „kann ich mein Medienverhalten steuern und habe es selbst in der Hand, was ich mir anschaue und was ich glaube.“ Das könnten auch Lehrkräfte unter dem Stichwort Digital Wellbeing vermitteln: „Sie sind die beliebteste Lehrkraft, wenn Sie einen Vertretungskoffer mit Medieninhalten bereithalten: 

Passwörter-Check, Datenschutzspiel, Medienquiz – da gibt es jede Menge Material“, verspricht die Mediencoachin. Die DAK-Studie geht noch einen Schritt weiter und fordert ein eigenes Schulfach, das sich dem Thema Gesundheit mit allen Facetten widmet: „Die Rahmenpläne sind gut und wichtig, aber die Frage ist, in welchen Schulfächern Medienkompetenz explizit vermittelt wird. Vor allen Dingen auf der personenbezogenen Ebene, bei der es um Resilienz und Lebenskompetenz geht, bleibt im Fachunterricht oder in der Projektarbeit zu viel auf der Strecke. Erst wenn Information auf der einen und Resilienzsteigerung und Stressbewältigungsstrategien auf der anderen Seite zusammenkommen, wirkt Prävention“, meint Psychiater Rainer Thomasius.

Medienkompetenz altersgerecht vermitteln, statt digitale Medien verbieten

Ob ein komplettes Verbot in Schulen – zum Beispiel von Smartphones und -watches – sinnvoll ist, sehen beide Expert*innen kritisch: „Ich plädiere für eine schrittweise Einführung von Medien in Schule und Unterricht. Und bei den Regelungen können Schulleitung, Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern mit ins Boot geholt werden“, sagt Kristin Langer. An einer Essener Gesamtschule blieben beispielsweise Smartphones und Co. in den unteren Stufen zunächst im Schulranzen, in Klasse 9 machen die Schüler*innen einen Handy-TÜV und arbeiten schließlich in der Oberstufe eigenverantwortlich mit digitalen Medien. 

Die pathologisch Mediennutzenden unter den 10- bis 17-Jährigen sind noch die Spitze des Eisbergs, aber allein im DZSKJ in Hamburg waren im vergangenen Jahr 500 Klient*innen von Mediensucht betroffen – etwa ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen, die dort eine Suchttherapie durchlaufen haben. „Diese Jugendlichen müssen an einen regulierten Mediengebrauch herangeführt werden. Das ist ein großer Unterschied zu den substanzgebundenen Suchtstörungen, wo wir versuchen, das Abstinenzparadigma zu vermitteln“, erklärt Rainer Thomasius. Es gibt viele Wege, problematischer Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen vorzubeugen, sie zu erkennen und Betroffene zu unterstützen. Staat, Eltern und Bildungseinrichtungen sind dabei gleichermaßen gefordert. Der klare Appell beider Expert*innen lautet: Verstehen statt verbieten! Und unbedingt altersgerecht vorgehen.