Die Aufgaben und Herausforderungen an Schulen nehmen bekanntlich ständig zu. Wie belastet sind Lehrkräfte aktuell?
Bärbel Wesselborg: Wir wissen aus verschiedenen Studien, dass geschätzt 10 bis 30 Prozent der Lehrer*innen von einer Erschöpfungssymptomatik betroffen sind. Exakte Zahlen haben wir nicht, weil es keine einheitliche Definition und unterschiedliche Instrumente zur Erhebung von berufsbedingter Erschöpfung gibt. Aus eigenen Befragungen wissen wir: Lehrkräfte leiden signifikant häufiger als andere Erwerbstätige unter Müdigkeit, Kopfschmerzen, Angespanntheit, Niedergeschlagenheit oder Schlafstörungen. Dies erklärt sich auch durch berufsspezifische Charakteristika.
Welche sind das?
Bärbel Wesselborg: Lehrkräfte leisten einen großen Anteil an Interaktionsarbeit, die mit hohen psychosozialen Anforderungen einhergeht. Während ihrer Kernaufgabe, der Unterrichtsgestaltung, müssen sie mit den Bedürfnissen der Schüler*innen umgehen und diese gleichzeitig motivieren und mitnehmen. Das Gelingen von Unterricht setzt die Mitarbeit der Klasse voraus. Wenn diese Kooperation nicht funktioniert und sich Schüler*innen kaum beteiligen oder den Unterricht stören, stellt dies für Lehrkräfte den größten Belastungsfaktor dar.
Sprechen wir dabei von einer Situation, die sich weiter zuspitzt?
Bärbel Wesselborg: Die Arbeitsbedingungen während der Corona-Pandemie und die damit verbundenen deutlichen Mehrbelastungen haben noch mal zu einer Verschlechterung der Situation geführt. In der Studie Emotionale Erschöpfung und Berufszufriedenheit von Lehrpersonal während der COVID-19-Pandemie aus dem Jahr 2022 gab etwas mehr als die Hälfte des befragten Lehrpersonals an, häufiger emotional erschöpft gewesen zu sein. Und laut einer Forsa-Umfrage des Deutschen Schulportals zu den Folgen der Pandemie berichtete weit mehr als die Hälfte der Lehrkräfte, oft oder sogar täglich körperlich erschöpft und müde zu sein.
Lehrkräfte leisten einen großen Anteil an Interaktionsarbeit, die mit hohen psychosozialen Anforderungen einhergeht.
Fast alle Lehrkräfte stellen seit der Pandemie auch bei Kindern und Jugendlichen vermehrt problematische Verhaltensweisen fest.
Bärbel Wesselborg: In der Forsa-Umfrage nannten Lehrer*innen einen Anstieg beispielsweise an Konzentrationsschwierigkeiten oder Motivationsproblemen. Dadurch ist die ohnehin große Herausforderung für Lehrkräfte, die gelingende Kooperation mit den Schüler*innen, noch mal deutlich schwieriger geworden. Da die Kinder und Jugendlichen mit mehr Problemen als erwartet aus der Coronazeit gekommen sind, ist die Interaktionsarbeit noch anspruchsvoller geworden. Das bedeutet, dass Unterricht noch mal anstrengender geworden ist.
Welche weiteren Belastungen kommen noch dazu?
Bärbel Wesselborg: Belastend ist auch das Pensum. Die Arbeitszeit von Lehrkräften ist mit den Pflichtstundenvorgaben für Unterricht, dem Lehrdeputat, nur teilweise geregelt. Weitere Aufgaben wie die Unterrichtsvor- und -nachbereitung, Konferenzen, die Zusammenarbeit mit Eltern oder Gespräche mit einzelnen Schüler*innen werden zeitlich nicht konkretisiert. Positiv formuliert könnte man sagen, dass Lehrer*innen über einen Teil ihrer Arbeitszeit relativ frei verfügen können.
Jedoch kann dies zu Überforderung führen, weil in der eigentlichen Arbeitszeit gar nicht alles erledigt werden kann. Zudem wird an der Schule häufig fast ununterbrochen unterrichtet. Die Pausen sind in der Regel nicht erholsam. Dann werden Räume gewechselt und Schüler*innen wollen noch ganz schnell ganz viel wissen. Viele Lehrer*innen berichten, dass sie den geteilten Arbeitsplatz problematisch finden. Es lässt sich schwer abschalten, wenn der Schreibtisch zu Hause im Wohnzimmer steht, es haben ja nicht alle ein Arbeitszimmer.
Gibt es Unterschiede zwischen den Schulformen – ist die Arbeit an einer Gesamtschule in Gelsenkirchen belastender als an einem Gymnasium in Freiburg?
Bärbel Wesselborg: In Studien lässt sich nicht empirisch nachweisen, dass bestimmte Schulformen per se stressiger wären. Allerdings finde ich es nachvollziehbar, dass es für Lehrende belastender ist, an Schulen mit Kindern zu unterrichten, die mehr Unterstützung benötigen. Grundsätzlich stellt die Sorge um die Entwicklung der Schüler*innen einen großen Stressfaktor für Lehrkräfte dar. Dies zeigt auch die Forsa-Umfrage: Einen Großteil belastet, dass die Schulen momentan nicht allen Kindern die Unterstützung geben können, die sie eigentlich bräuchten.
Welche Rolle spielt der Lehrkräftemangel?
Bärbel Wesselborg: Das ist gerade wohl das Hauptproblem an Schulen. In Nordrhein-Westfalen haben wir rund 6.700 unbesetzte Stellen, wir sind das Bundesland mit den meisten offenen Stellen. Ich kenne Schulen, da liegt diese Zahl im zweistelligen Bereich, es gibt einfach keine Bewerber*innen. Das bedeutet, dass viele Aufgaben nicht mehr so im Team geteilt werden können wie zuvor. Die Vertretungen, die kurzfristig da sind, haben natürlich häufig nicht so das Ganze im Blick wie das eigentliche Kollegium. Für Schulleitungen hat die Verwaltungsarbeit gerade noch mal deutlich angezogen.
Es ist wichtig, dass Lehrer*innen es schaffen, sich zu erholen und tatsächlich abzuschalten, Dinge zu tun, die ihnen Spaß machen, ein gutes soziales Umfeld zu pflegen.
Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz (KMK) geht davon aus, dass der Lehrkräftemangel noch 20 Jahre andauern wird. Da lässt sich Pädagog*innen kaum eine Perspektive der Entlastung bieten.
Bärbel Wesselborg: Es ist tatsächlich schwierig. Es wird nicht so schnell so gut ausgebildete Lehrer*innen geben, wie wir es gewohnt waren. Wenn ich mit Schulen Kontakt habe, höre ich Wünsche nach mehr Entlastungspersonal, etwa für Verwaltungs- und IT-Aufgaben, damit sich die Lehrkräfte wieder mehr um die pädagogische Arbeit kümmern können. Viele Lehrkräfte wünschen sich zur Unterstützung mehr multiprofessionelle Teams. Teilweise wurde dies mit Schulsozialarbeiter*innen oder Schulpsycholog*innen auch schon umgesetzt, aber noch lange nicht an allen Schulen. Da ist in der Politik sicher noch viel Luft nach oben.
Was empfehlen Sie Schulen, aber auch einzelnen Lehrer*innen?
Bärbel Wesselborg: Auf individueller Ebene habe ich am meisten Einfluss, da kann jede*r etwas für sich selbst machen. Wir wissen aus der Forschung, wie wichtig es ist, dass Lehrer*innen es schaffen, sich zu erholen und tatsächlich abzuschalten, Dinge zu tun, die ihnen Spaß machen, ein gutes soziales Umfeld zu pflegen. Das erfordert allerdings ein hohes Maß an Selbstorganisation: Man muss sich Arbeitszeiten mit festem Rahmen stecken, Erreichbarkeiten festlegen und diese im Kollegium und bei Schüler*innen kommunizieren – etwa, dass man von Freitag- bis Sonntagnachmittag per Mail nicht erreichbar ist. Zu Hause sollte man Feierabendrituale pflegen und dann auch alle Materialien wegräumen.
Auf der Ebene der Schule wissen wir, dass die soziale Unterstützung von Kollegium und Schulleitung unheimlich wichtig ist - dass es immer wieder Gelegenheiten zum Austausch und gemeinsame Unternehmungen gibt, sodass man sich als Gemeinschaft weiterentwickeln kann. Da spielt die Schulleitung eine große Rolle, sie sollte ihre Mitarbeiter*innen im Blick haben und auch Feedbackgespräche führen, in denen thematisiert wird, was gut läuft und was alles gelingt. Die Gefahr ist sonst da, dass man sich handlungsunfähig fühlt. Man sollte versuchen, den Blick auf die Dinge zu lenken, die gut gelingen, und auf die, die man verändern und verbessern kann.