

Die soziale Herkunft Studierender ist im Hochschulalltag nicht auf den ersten Blick sichtbar. Dennoch kann sie bei vielen jungen Menschen aus nicht akademischen Familien Entscheidungen und Werte beeinflussen – manchmal bewusst, manchmal unbewusst. Viele Studierende der ersten Generation haben mit Selbstzweifeln, finanziellen Sorgen, fehlendem Wissen über Studienabläufe, wenig familiärer Unterstützung und Unsicherheiten in Bezug auf ihre berufliche Zukunft zu kämpfen. Doch eine Betrachtung, die rein auf der individuellen Ebene ansetzt, wird dem Thema nicht gerecht – wir brauchen einen Blick auf die Strukturen, um die soziale Ungleichheit an Hochschulen adressieren zu können.
Die Herkunft bestimmt den Weg
Der Bildungsweg hängt in Deutschland weiterhin maßgeblich vom Elternhaus ab: Von 100 Kindern aus Akademiker*innenfamilien nehmen 78 ein Studium auf, bei Kindern aus Familien ohne akademischen Hintergrund sind es nur 25. Diese Zahlen, sie stammen vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung, sprechen für sich: Die soziale Herkunft ist ein maßgeblicher Faktor bei der Entscheidung für oder gegen ein Studium. Die Studienlage zeigt auch, dass die Unterschiede mit dem Übergang von der Schule in die Hochschule nicht einfach aufhören. Auch bei den weiteren Übergängen – Bachelor, Master, abgeschlossene Promotion – bleiben die Zahlen der Studierenden der ersten Generation weit hinter jenen von jungen Menschen aus akademischen Elternhäusern zurück.
Warum Menschen ohne akademische Eltern deutlich seltener ein Studium aufnehmen als ihre Altersgenoss*innen aus Akademiker*innenfamilien, liegt nicht nur an individuellen, sondern vor allem an strukturellen Hürden. Wer über Vorwissen oder Zugang zu informellem Wissen verfügt, hat es leichter, ein Studium aufzunehmen, zu finanzieren und erfolgreich abzuschließen. In der Familie nachfragen, sich Schritte erklären lassen oder auf Netzwerke zugreifen – all das ist für viele Studierende aus nicht akademischen Familien nicht selbstverständlich. Doch wie stark ist das Bewusstsein für diese herkunftsbedingten Herausforderungen an der Hochschule?
Die soziale Herkunft zieht sich wie ein roter Faden durch die Biografie
„Wenn Studierende aus nicht akademischen Familien erst einmal den Weg an die Uni geschafft haben, sind sie ‚durchakademisiert‘ und es gibt eigentlich keine Unterschiede mehr“ – ein Satz, den wir häufig hören. Unserer Erfahrung nach ist die soziale Herkunft allerdings ein roter Faden, der sich mit verschiedenen Facetten durch die eigene Biografie zieht und der sich auch mit dem Erreichen von beruflichen oder akademischen Führungspositionen nicht komplett verliert.
In einer Community-Umfrage von ArbeiterKind.de im Frühjahr 2025, bei der gezielt Erstakademiker*innen befragt wurden, die sich für einen Berufsweg in der Wissenschaft entschieden haben, zeigte sich ganz klar: Die meisten würden sich wieder für den Schritt in die Wissenschaft entscheiden und empfinden das Arbeiten auf den verschiedenen Karrierestufen als erfüllend und positiv. Die Schwierigkeiten liegen hingegen im Aushalten von äußeren Widrigkeiten: Viele ordnen ihre Finanzierungssituation während der Promotion als prekär ein. Schwierigkeiten zeigen sich auch beim Zugang zu informellem Wissen: Welche Schritte gehören zum Weg in eine wissenschaftliche Karriere? An wen kann ich mich mit den vermeintlich „dummen“ Fragen wenden? Es bedarf daher neben einem Bewusstsein für die Hürden und Herausforderungen von Erstakademiker*innen auf allen Ebenen der Hochschule gezielte Programme, die all jene unterstützen und bestärken, die als Erste in ihrer Familie den akademischen Weg bestreiten.


Ehrenamtliche ergänzen Hochschulangebote und Beratungsstellen
Die Beschäftigung mit der eigenen Bildungsbiografie kann emotional sein, insbesondere wenn man sich noch auf dem Weg zum Hochschulabschluss oder zur wissenschaftlichen Qualifikation befindet. Sensible Themen brauchen Vertrauensräume. ArbeiterKind.de bietet eine Anlaufstelle, die die einschlägigen Hochschulangebote und professionellen Beratungsstellen ergänzt, um Studierende aus nicht akademischen Familien bestmöglich in ihrer Lebensrealität zu erreichen. Ein „Du kannst das und du bist nicht allein!“ von Personen zu hören, die in ähnlichen Lebenssituationen sind oder waren, kann enorm viel bewirken. Viele unserer Ehrenamtlichen sind selbst die Ersten in ihrer Familie, die studiert haben. Sie wissen, wie es sich anfühlt, ohne Orientierung zu starten, und können genau deshalb authentisch Mut machen, aufklären und begleiten.
Studierende der ersten Generation brauchen kein Mitleid, sondern Vertrauen in ihre Fähigkeiten und gezielte Unterstützung:
- Niedrigschwellige Informationen und Zugang zu informellem Wissen, zum Beispiel über Möglichkeiten der Studienfinanzierung, BAföG oder Stipendien
- Mentoring und einen Peer-to-Peer-Ansatz, der Raum für Fragen, Zweifel und Bestärkung bietet
- Lebensnahe Vorbilder, die Wege und Möglichkeiten aufzeigen
- Anerkennung der Mehrfachbelastung durch Studium, Job und familiäre Verpflichtungen
- Eine Hochschulkultur, die Diversität auf allen Ebenen lebt und die Raum für sensible und schambesetzte Themen bietet
All dies können auch Erfolgsfaktoren für den weiteren Weg sein, in der Wissenschaft wie außerhalb. Ein besonders wichtiges Instrument ist dabei die Sensibilisierung von Hochschulmitarbeitenden und der Hochschulleitung. Intransparente Informationen müssen sichtbar gemacht und nötige Bausteine für einen erfolgreichen Weg explizit erläutert werden.
Wir brauchen ein Umdenken beim Blick auf Studierende und Absolvent*innen aus nicht akademischen Familien – weg von einer problemzentrierten
hin zu einer kompetenzanerkennenden Betrachtungsweise.
Strukturen und Privilegien müssen hinterfragt werden
Seit einigen Jahren erfährt das Thema der sozialen Herkunft eine größere Sichtbarkeit in der Hochschul- und Wissenschaftswelt. Nun ist es an der Zeit, genauer auf die eigenen Strukturen und Privilegien zu schauen: Wie zugänglich sind Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen wirklich – in ihrer Sprache, ihren Strukturen und ihrer Kommunikation? Formal stehen Studierenden der ersten Generation dieselben Möglichkeiten offen wie Studierenden aus akademischen Familien. Im Praktischen gibt es jedoch viele Hürden, die den Weg verengen: Wer kann sich wo welche Praktika und Auslandsaufenthalte leisten? Benötige ich einen Job, um mir mein Studium leisten zu können, und wenn ja: Wo arbeite ich und stellt es später im Leben eine relevante Referenz dar? Habe ich Zugang zu Netzwerken und informellem Wissen, das mir den weiteren Weg erklärt?
Die Bewertungskriterien für Prozesse, in denen Leistungen und Qualifikationen begutachtet werden, müssen daher kritisch geprüft und an diverse Lebensrealitäten angepasst werden. Denn nur dadurch können die positiven Eigenschaften und Fähigkeiten sichtbar werden, die Studierende der ersten Generation, aber auch andere im Bildungssystem marginalisierte Gruppen mitbringen.
Wir brauchen ein Umdenken beim Blick auf Studierende und Absolvent*innen aus nicht akademischen Familien – weg von einer problemzentrierten hin zu einer kompetenzanerkennenden Betrachtungsweise. Mit gezielter Unterstützung, strukturellem Wandel und einem wachsenden Bewusstsein können wir dafür sorgen, dass der Bildungserfolg in Deutschland nicht länger vom Elternhaus abhängt und Potenziale nicht unnötig verloren gehen.