lautstark. 12.09.2025

Machtmissbrauch in der Wissenschaft

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Es sind keine Einzelfälle

Wie äußert sich Machtmissbrauch in der Wissenschaft? Wer ist betroffen? Wie weit ist er verbreitet? Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden, um Machtmissbrauch wirksam entgegenzuwirken? Lisa Niendorf, Erziehungswissenschaftlerin und Content Creatorin FrauForschung, gibt einen Überblick.

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  • Ausgabe: lautstark. 04/2025 | Wissenschaft und Macht: Neue Strukturen schaffen
  • Autor*in: Lisa Niendorf
  • Funktion: Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Erziehungswissenschaften der Humboldt-Uni zu Berlin
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Lange Zeit wurde das strukturelle und systemimmanente Problem Machtmissbrauch verschwiegen, wie die Aufsätze in dem Band „Machtmissbrauch an Hochschulen“ zeigen. Denn über Machtmissbrauch spricht man nicht, oder nur ungern. Dabei ist Machtmissbrauch in der Wissenschaft kein Ausnahmefall, sondern ein strukturell begünstigtes Phänomen und betrifft nicht nur Universitäten, sondern auch Hochschulen für angewandte Wissenschaften, Musik- und Kunsthochschulen sowie außeruniversitäre Forschungseinrichtungen.
Zwar herrscht vielerorts noch Schweigen, doch wird das Thema seit einigen Jahren, wenn auch oft zögerlich, und längst überfällig, inzwischen in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit aufgegriffen. 

Dabei darf jedoch nicht übersehen werden: Machtmissbrauch wurde nicht erst sichtbar, seitdem weiße* Menschen in weiß zentrierten Wissenschaftsinstitutionen von anderen weißen Menschen machtmissbräuchlich behandelt werden. Black-Indigenous-and-of-Color-(BIPoC)Wissenschaftler*innen erleben ihn seit jeher. Wer über Machtmissbrauch spricht, muss deshalb auch über Diskriminierung und ihre intersektionalen Formen sprechen. Es braucht einen schonungslosen, machtkritischen Blick, der Machtmissbrauch im Kontext der Deutungshoheit weißer Perspektiven erkennt und benennt.

*Das Wort bezeichnet in diesem Text keine Hautfarbe, sondern gesellschaftspolitisch machtvolle Positionen innerhalb des Machtverhältnisses Rassismus.

Macht kann verantwortungsvoll oder missbräuchlich eingesetzt werden

Macht wird in Hochschulen gezielt vergeben, um institutionelle Ziele zu sichern – etwa, wenn Professor*innen prüfen, bewerten oder Personal einstellen. Macht sei also per se nichts „Schlechtes“, solange es sich um einen legitimen Gebrauch der Macht handele, wie Daniel Leising, Martina Winkler und Hanna Schade in ihrem Aufsatz Macht und Machtmissbrauch in der Wissenschaft darlegen. Ob Macht verantwortungsvoll oder missbräuchlich eingesetzt wird, hängt letztlich davon ab, wessen Interessen im Mittelpunkt stehen. 

Der Missbrauch beginnt dort, wo jemand seine Position ausnutzt, um den eigenen Vorteil gegen andere durchzusetzen – und dabei andere Menschen auf illegitime Weise schädigt, ausschließt oder benachteiligt, wie es beispielsweise die beiden Mitglieder des Netzwerks gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft Sophia Hohmann und Annah Keige-Huge formulieren. Etwa durch Ausgrenzung, Mobbing, sexuelle Belästigung oder erzwungene Mehrarbeit. Ein konkretes Beispiel: Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter wird darum „gebeten“, zusätzlich zur eigenen Forschungsarbeit ein ganzes Seminar zu übernehmen, obwohl das nicht im Vertrag steht. In Aussicht gestellt wird die Verlängerung seines Vertrags. Rein formal bleibt ihm die Wahl. 

Faktisch aber ist sie an seine Zukunftsperspektive gebunden. Auch Verstöße gegen wissenschaftliche Standards wie Plagiate, Datenmanipulation oder unrechtmäßige Autor*innenschaft können Ausdruck von Machtmissbrauch sein. Jana Lasser und Susanne Täuber weisen in ihrem Aufsatz Machtmissbrauch in der Wissenschaft: Problembeschreibung und Lösungsstrategien aus der Perspektive der Personalentwicklung darauf hin, dass es zudem problematisch sei, dass illegitimes Verhalten für Hochschulen mitunter sogar als „legitim“ und nützlich gelten könne, solange es unentdeckt bleibe und institutionellen Zielen diene.

Zahlreiche Untersuchungen zeigen: Machtmissbrauch ist weitverbreitet und …

Dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern um ein weitverbreitetes Phänomen, zeigen inzwischen zahlreiche Untersuchungen. So berichteten in einer Untersuchung von Jens Ambrasat, Denise Lüdtke und Yoanna Yankova zum Beispiel 25 Prozent der befragten Berliner Wissenschaftler*innen, Machtmissbrauch mehrmals oder regelmäßig beobachtet und knapp 14 Prozent mehrmals oder regelmäßig selbst erlebt zu haben. 54 Prozent der Befragten an der Hochschule für Musik und Theater München gaben an, Machtmissbrauch selbst erlebt, gesehen oder davon gehört zu haben. In einer Studie der Promovierendenvertretung der Max-Planck-Gesellschaft gaben 15 bis 25 Prozent der Befragten Bullying-Erfahrungen an, 20 Prozent waren von wissenschaftlichem Fehlverhalten betroffen. Diese Zahlen sind wichtig und zugleich bezeichnend. Denn erste politische sowie institutionelle Bemühungen, dem strukturellen Problem entgegenzutreten, wurden erst unternommen, seitdem es quantifizierbar wird. Dass Betroffene seit Langem eindrücklich berichten, reichte bislang offenbar nicht. 

... wird vom Wissenschaftssystem begünstigt

Dabei wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass das Wissenschaftssystem selbst Machtmissbrauch begünstige, besonders in Deutschland. Hier konzentrieren sich strukturell viele Machtbefugnisse in einer Person: Betreuung, Bewertung, Vertragsentscheidungen und Karriereurteile liegen oft bei ein und derselben*demselben Professor*in. Befristete Verträge nach dem problematischen Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) verstärken Abhängigkeiten zusätzlich. Wissenschaftliche Mitarbeiter*innen in Betreuungsverhältnissen sind dabei besonders gefährdet, aber auch nicht wissenschaftliches Personal, studentische Mitarbeiter*innen sowie Studierende, wenn sie direkt Lehrenden oder Professor*innen zugeordnet sind.

Auch die Bewertungsmaßstäbe wissenschaftlicher „Exzellenz“ – gemessen an Drittmitteleinwerbung und Publikationszahlen – tragen dazu bei, dass der illegitime Gebrauch von Macht zur Durchsetzung individueller Interessen besonders wirksam ist. Schließlich sind Leitungspositionen oft mit Personen besetzt, die Merkmale der „dunklen Triade“ – Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie – aufweisen, was Machtmissbrauch wahrscheinlicher macht. Die Folgen dessen sind verheerend. Machtmissbrauch verursacht traumatisierte Wissenschaftler*innen, die an Depressionen und Angststörungen erkranken, wie in verschiedenen Publikationen bereits dargestellt wurde.

Zudem verstärkt sich Machtmissbrauch dort, wo gesellschaftliche Ungleichheiten dazukommen, wie beispielsweise die Publikationen von Jens Ambrasat, Denise Lüdtke und Yoanna Yankova und des Referent*innenRats der Humboldt-Universität zu Berlin zeigen. So sind besonders (mehrfach-)marginalisierte Personen gefährdet – etwa Frauen of Color, queere oder nicht binäre Wissenschaftler*innen, Menschen mit chronischen Erkrankungen oder solche, die einer ethnischen oder religiösen Minderheit angehören. Nicht selten führen diese psychischen Belastungen sowie der Minderheitenstress zum Rückzug aus der Wissenschaft. Damit gefährdet Machtmissbrauch nicht nur individuelle Karrieren, sondern bedroht die Integrität der Wissenschaft insgesamt.

Damit gegen Machtmissbrauch jedoch vorgegangen werden kann, müsste er zunächst gemeldet werden. Erhebungen wie die Befragung des Ombudsgremiums der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) zeigen jedoch, dass nur ein Bruchteil der Betroffenen den Schritt geht – aus Angst vor negativen Konsequenzen, fehlenden Schutzkonzepten und unzureichender institutioneller Unterstützung. Das Ausbleiben von Meldungen darf aber keinesfalls als Beleg für die Seltenheit von Machtmissbrauch gedeutet werden. 

Zwar existieren an Hochschulen und Forschungseinrichtungen Ombudsstellen, Gleichstellungsbeauftragte oder Personalräte, doch viele Betroffene nehmen diese nicht in Anspruch, weil die Verfahren in der Regel innerhalb derselben Institution geführt werden, der auch die beschuldigte Person angehört. Zudem wird Fehlverhalten häufig gar nicht oder nur unzureichend sanktioniert. Die Zuständigkeiten hinsichtlich der Maßnahmen seien nicht konsistent, die Verantwortung werde weitergereicht, wie Martina Winkler in ihrem Aufsatz  Stellschrauben im Kampf gegen Machtmissbrauch – was können wir tun? darlegt.

Wirksame Mechanismen gegen Machtmissbrauch? Fehlanzeige!

Machtmissbrauch ist demnach weder bloß ein vermeintlicher Einzelfall noch ausschließlich ein Produkt des Systems, das einen zwingt, mitzuspielen. Entscheidend ist die Passung: Ein System mit wenig Kontrolle, hohem Leistungsdruck, intransparenten Strukturen und massiven Abhängigkeitsverhältnissen bietet den idealen Nährboden für Personen, die bereit sind, Macht zu ihren eigenen Gunsten auszulegen. Noch immer fehlen wirksame Mechanismen, um machtmissbräuchliches Verhalten frühzeitig zu erkennen – geschweige denn wirksam zu sanktionieren.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Machtmissbrauch kein individuelles, sondern ein komplexes strukturelles Problem ist. Veränderungen sind auf allen Ebenen erforderlich und müssen alle relevanten Akteur*innen einbeziehen. Eine wichtige Maßnahme wäre die Trennung von Betreuung und Bewertung sowie die Bildung von Begutachtungskommissionen. Ebenso braucht es eine Haltungsänderung: eine offene Fehler- und Konfliktkultur, die Kritik an Machtverhältnissen ermöglicht, und die Stärkung intersektionaler Perspektiven, um mehrfach marginalisierte Gruppen zu schützen. 

Dazu gehört auch, dass privilegierte Gruppen ihre eigenen Lebenswege nicht länger als universellen Maßstab betrachten. Nicht zuletzt muss Schluss damit sein, dass Reformen aufgeschoben werden, weil man im Hinterstübchen davon ausgeht, die Betroffenen würden das System ohnehin früher oder später verlassen – sei es durch machtmissbräuchliche, ausbeuterische Arbeitsbedingungen oder durch die Befristungslogik des WissZeitVG. 

Lektüretipps

Machtmissbrauch in Wissenschaft und Forschung

UNIversal gescheitert?
Wissenschaft und Hochschule zwischen Machtmissbrauch, Leistungsdruck und Ausbeutung: was wir dagegen tun können
von Lisa Niendorf alias @frauforschung – Droemer HC, 01.10.2025, 288 Seiten, 20 Euro Weitere Infos

In ihrem ersten Sachbuch „UNIversal gescheitert“ macht Lisa Niendorf auf die strukturellen Mängel innerhalb des Wissenschaftssystems aufmerksam. Es geht um die Themen Machtmissbrauch, Leistungsdruck, Diskriminierung, Ausbeutung und Mental-Health-Probleme und um die Maßnahmen zur Lösungen dieser Probleme. 

 

Machtmissbrauch an Hochschulen
Analysen und Perspektiven
herausgegeben von Cornelia Schweppe – wbv Publikation, 25.07.2025, 112 Seiten, 40 Euro (PDF-Downloads einzelner Aufsätze kostenfrei)

Mit Aufsätzen unter anderem von:

  • Cornelia Schweppe: Einleitung. Machtmissbrauch an Hochschulen
  • Daniel Leising, Martina Winkler, Hanna Schade: Macht und Machtmissbrauch in der Wissenschaft
  • Martina Winkler: Stellschrauben im Kampf gegen Machtmissbrauch – was können wir tun?