lautstark. 26.09.2023

Seiteneinstieg: Ins kalte Wasser springen und schwimmen

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Unterrichtsversorgung sicherstellen und Kolleg*innen entlasten

David Pick ist Lehrer für Deutsch und Englisch. Aber das war er nicht immer. Er ist Seiteneinsteiger im System Schule und damit Teil einer von vielen Maßnahmen, die die Unterrichtsversorgung in NRW sicherstellen und die Kollegien entlasten sollen. Uns hat er erzählt, wie der Einstieg verlaufen kann und welche Herausforderungen damit verbunden sind. Kann es funktionieren, ohne pädagogische Kenntnisse von jetzt auf gleich vor einer Klasse zu stehen und zu unterrichten?

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  • Ausgabe: lautstark. 05/2023: Belastungen reduzieren. Weil zu viel zu viel ist
  • Autor*in: Denise Heidenreich
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Über acht Prozent der Lehrer*innen, die 2022 an einer Schule in NRW unterrichten, sind Seiteneinsteiger*innen. Das Land NRW bemüht sich seit einigen Jahren mit verschiedenen Programmen, nicht grundständig ausgebildete Lehrkräfte für das Lehramt zu gewinnen. Ihnen wird entweder der Zugang zum Referendariat eröffnet – das ist der Quereinstieg – oder sie werden direkt als unterrichtende Lehrkraft eingestellt und berufsbegleitend durch den Seiteneinstieg qualifiziert.

Didaktik und Erziehungswissenschaft in der Pädagogischen Einführung direkt praktisch anwenden

Einer, der den Seiteneinstieg wagte, ist David Pick. Nach mehr als zwei Jahrzehnten als Lehrer an einer privaten Sprachschule bewarb er sich 2010 als Seiteneinsteiger auf das Teachers Acquisition Programme NRW, bei dem Muttersprachler*innen als Sprachlehrer*innen in den Schuldienst aufgenommen wurden: „Die Beschäftigungsverhältnisse an den Sprachschulen wurden damals immer prekärer und ich wollte mich beruflich verändern. Ich wurde in das Programm aufgenommen und habe mich auf verschiedene ausgeschriebene Stellen für Seiteneinsteiger*innen beworben. An einer Hauptschule in Mönchengladbach-Rheydt bin ich schließlich fündig geworden und stand bereits wenige Monate später vor meiner ersten Klasse“, erinnert sich der gebürtige Engländer, der im Alter von 22 Jahren nach Deutschland kam. Heute unterrichtet er Deutsch und Englisch an der Gesamtschule Kaarst-Büttgen. 

Unterrichtsstunden vorbereiten, didaktische Methoden auswählen und eine heterogene Schüler*innenschaft händeln – all das sind Themen, die zumindest in der Theorie im Lehramtsstudium vermittelt werden. Seiteneinsteiger*innen stehen dabei vor der Herausforderung, dass sie ins kalte Wasser springen und losschwimmen müssen, denn sie eignen sich dieses Wissen zeitgleich mit dem Start in den Lehrer*innenberuf direkt in der Praxis an. Für Menschen wie David Pick bedeutete das eine einjährige Pädagogische Einführung (PE), mit der er didaktisch für seine Fächer nachqualifiziert wurde und zeitgleich auch übergreifende didaktische und pädagogische Inhalte vermittelt bekam. Er hospitierte bei erfahrenen Lehrer*innen und regelmäßige Unterrichtsbesuche von den Fachleiter*innen des Seminars standen ebenso auf dem Plan wie Lehrveranstaltungen zu fachlichen und überfachlichen Themen. 

Über Belastungen in den Austausch gehen und Herausforderungen annehmen

Ob und inwieweit dieser Weg von Erfolg gekrönt ist, hängt stark von der jeweiligen Schule und dem eigenen Engagement der Seiteneinsteiger*innen ab. „Ich hatte das Glück, dass ich an meiner ersten Schule viel Unterstützung durch Kolleg*innen und Fachleitungen bekam. Meine Arbeit wurde von Anfang an wertgeschätzt! Und ich konnte durch meine vorherige Tätigkeit als Sprachlehrer auf Vorerfahrungen in Sachen Unterrichtsvorbereitung und Stundenplanung zurückgreifen. Dennoch stand auch ich vor einer spannenden Herausforderung: Ich wurde als englischer Muttersprachler mit Germanistikstudium nämlich nicht nur für den Englischunterricht, sondern sofort auch für den Deutschunterricht eingeteilt – das war natürlich erst mal neu und sehr ungewohnt für mich“, erzählt David Pick.

Der Deutsch- und Englischlehrer nahm die Herausforderung erfolgreich an, erinnert sich jedoch auch an die Belastungen in der ersten Zeit: „Problematisch war vor allem, dass ich keinen Ausbildungsunterricht hatte, so wie er im Referendariat eigentlich üblich ist. Mir fehlte es in vielen Momenten an praktischen Beispielen: Wie gehe ich mit pädagogisch herausfordernden Klassen um? Was mache ich, wenn mir keiner zuhört oder ein Schüler konsequent keine Hausaufgaben macht?“ Situationen wie diese hatte David Pick in der Erwachsenenbildung nur selten mal erlebt: „Und es kann sehr belastend sein, wenn einem einfach das Handwerkszeug für den richtigen Umgang damit fehlt. Ich habe das Glück, dass meine Frau ausgebildete Lehrerin ist und wir viele Schwierigkeiten zu Hause besprechen konnten. Mit den Jahren sammelt man seine eigenen Erfahrungen. Aber diese Möglichkeit haben natürlich nicht alle“, weiß der 57-Jährige. 

Problem Fluktuation: Wenn aus dem Einstieg ein Ausstieg wird 

Das Beispiel von David Pick zeigt, dass für den erfolgreichen Seiteneinstieg in Schule einige Faktoren im positiven Sinne zusammenkommen müssen. Die Fluktuation ist hoch, viele steigen wieder aus. Einer der Gründe, warum Seiteneinsteiger*innen dem Schuldienst wieder den Rücken kehren, sind die hohen Belastungen direkt beim Start. David Pick sieht es so: „Aus meiner Sicht ist es vor allem am Anfang wirklich belastend, weil man vom ersten Tag an mit den voll ausgebildeten Lehrer*innen mithalten und dieselben Aufgaben bewältigen muss – das kann je nach Standort, Schule und Schüler*innen wirklich sehr, sehr schwierig sein. Hinzu kommt, dass die Bezahlung für die gleichen Aufgaben niedriger ausfällt – auch das ist sicher ein Punkt, der einige abschreckt.“

Er benennt damit eine der oft kritisierten Regelungen im System: Seiteneinsteiger*innen werden niedriger eingruppiert als angestellte Lehrkräfte, diese wieder niedriger als verbeamtete Lehrkräfte. Die ungleiche Bezahlung kann auf Dauer zu Unzufriedenheit führen. Hinzu kommt, dass der Seiteneinstieg die Unterstützung des übrigen Schulkollegiums erfordert und so zusätzliche Kapazitäten an den Schulen bindet. Im Sinne der Bildungsqualität ist es aber notwendig, dass Seiteneinsteiger*innen sowohl Aufstiegsperspektiven als auch der Anspruch einer gleichen Bezahlung eröffnet werden, damit die Option, an die Schule zu wechseln, attraktiv bleibt.

Das fordert die GEW NRW

Seiteneinstieg an Schulen verbessern!

In ihrem Positionspapier „Bekämpfung des Lehrkräftemangels durch eine echte Lehrkräfteoffensive“ macht die GEW NRW zahlreiche Verbesserungsvorschläge für den Seiteneinstieg:

Seiteneinstieg an Grundschulen verantwortungsvoll gestalten

  1. Aktuellen Seiteneinstieg für die Fächer Englisch, Musik, Kunst und Sport mit Pädagogischer Einführung (PE) als weitere Möglichkeit erhalten, zum Beispiel für Kolleg*innen mit Bachelor.
  2. Diesen Seiteneinsteiger*innen sollte die Möglichkeit eröffnet werden, sich über Z-Kurse für weitere Fächer zu qualifizieren.
  3. Die Möglichkeit eines dualen Studiums muss geprüft werden. Als Maßnahme könnte dies zunächst für zehn Jahre befristet werden. Weiterbildungsmöglichkeiten mit verbindlicher Aufstiegsperspektive müssen geschaffen werden. Coaching- und Mentoringstrukturen müssen dringend aufgebaut werden.
  4. Der Seiteneinstieg muss dringend besser betreut werden. Bedarfserhöhende Stellenanteile für Lehrer*innen in Ausbildung (LIA) müssen an die Schulen gegeben werden, damit Schulen nicht sechs Stunden weniger pro LIA zur Verfügung haben. Anrechnungsstunden für Betreuungslehrkräfte müssen erhöht und Beurteilungsbeiträge überprüft werden. LIAs müssen, angelehnt an die grundständige Lehramtsausbildung, die Möglichkeit haben, im Unterricht anderer Lehrkräfte zu hospitieren und Ausbildungsunterricht erhalten.

OBAS und Quereinstieg für Sekundarstufe I und II

  1. OBAS-Bedingungen verbessern: Die OBAS muss – sowohl für die angehenden Lehrkräfte wie auch für die Schulen – attraktiver gemacht werden. In den Stunden müssen auch Hospitationen enthalten sein. Und die Stunden, die die OBASler*innen in der Ausbildung ableisten müssen (an Zentren für schulpraktische Lehrer*innenausbildung (ZfsL), gegebenenfalls dann eben auch Hospitationen), dürfen nicht durch die Schulen aufgebracht werden, sondern müssen aus einem Extratopf des Landes stammen. Die Anrechnungsstunden für Ausbildung in Schule und die Entlastungsstunden in der OVP, Anlage 3, müssen erhöht werden. Generell gilt: Deutlich mehr Zeit für Ausbildung in allen Bereichen ist nötig.
  2. Steigerung der finanziellen Attraktivität der Ausbildung, sprich: eine Anpassung an die Laufbahnen.
  3. OBAS sollte für Menschen mit Lehramtsabschluss und längerer Berufserfahrung eingerichtet werden: Die Zielgruppe dafür wären Menschen mit Erstem Staatsexamen, die sich erst mal gegen das Lehramt entschieden haben, jetzt damit liebäugeln, sich aber nicht die starken finanziellen Einbußen in einem Referendariat leisten können. Dieses Konzept gab es bereits vor circa 15 Jahren.
  4. Bei extremen Mangelfächern sollten Ein-Fach-Lehrkräfte mit vollwertigem Lehramt verbunden mit pädagogischer Qualifizierung ermöglicht werden. Die Maßnahme sollte befristet für fünf Jahre eingeführt werden.
  5. Es braucht mehr Flexibilität bei der Ausschreibung und Öffnung von Stellen in Abhängigkeit von den Bedarfen der Schule.
  6. Der Quereinstieg, das heißt der direkte Einstieg ins reguläre Referendariat für Bewerber*innen mit wissenschaftlichem Hochschulstudium, muss für alle Schulformen im Sekundarbereich wieder ermöglicht werden.
  7. Die Lehramtszugänge müssen nach außen geöffnet werden durch vereinfachte Anerkennung ausländischer Abschlüsse (auch für „Ein-Fächler*innen“).

Sonderpädagogische Förderung

  1. OBAS für das Lehramt für sonderpädagogische Förderung: Ein vollwertiges Lehramt muss erreicht werden können, wenn das Studienfach in einem Fach ist, das unmittelbar Inhalte der sonderpädagogischen Förderung umfasst (etwa Heilpädagogik, klinische Pädagogik, inklusive Pädagogik), eine staatliche Anerkennung und die Befähigung zu AOSF-Verfahren vorliegen. Die Frage der Bezahlung im OBAS-Verfahren ist zu klären.