lautstark. 02.08.2023

Lehrkräftemangel: Vorhandene Lösungsansätze nutzen

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GEW NRW fordert die Landesregierung zum Handeln auf

Zum Start des neuen Schuljahrs drängt die GEW-Landesvorsitzende Ayla Çelik die Politik, endlich zu handeln und dem Lehrkräftemangel zu begegnen. Die Bildungsgewerkschaft hat ein Papier mit Lösungsansätzen erarbeitet, die kurz-, mittel- und langfristig wirken können. Eine gute Vorlage für die Landesregierung.

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  • Ausgabe: lautstark. 04/2023 | Tarifarbeit: Gemeinsam stark
  • Autor*in: Ayla Çelik
  • Funktion: Vorsitzende der GEW NRW
Min.

Das Schuljahr 2023/2024 beginnt, wie das letzte Schuljahr geendet ist: mit einem enormen Lehrkräftemangel. Schulministerin Dorothee Feller hat schon vor den Sommerferien von circa 6.700 fehlenden Lehrkräften gesprochen. Es wäre zwar schön, wenn die 6.700 Kolleg*innen da wären – ausreichen würden sie trotzdem noch lange nicht.

Alle, die den Schulalltag kennen, wissen, dass selbst mit einer Stellenbesetzungsquote von 100 Prozent nie 100 Prozent an Ort und Stelle erreichbar sind: Krankheiten, Schwangerschaften und Abordnungen sind nur einige der Gründe, die dazu führen, dass im Alltag immer weniger Lehrkräfte an den Schulen verfügbar sind, als auf dem Papier stehen. Deshalb fordern wir schon lange eine Lehrer*innenbesetzungsquote von 110 Prozent.

Effektive Verbesserung mit richtigem Maßstab

Eine Quote von 110 Prozent bedeutet effektive Verbesserungen im Schulalltag – und zwar gleichermaßen für Schüler*innen und Lehrkräfte! Mit so einer Quote würde es weniger Unterrichtsausfall, mehr Zeit für individuelle Förderungen und mehr Entlastung für die Beschäftigten geben. Was utopisch und aktuell realitätsfern erscheint, muss aber unser Maßstab in der Debatte um den Lehrkräftemangel sein. Wenn das Ministerium davon ausgeht, dass es noch 6.700 Lehrkräfte bedarf, um die 100-Prozent-Quote zu erreichen, dann brauchen wir für den Sprung vom heutigen Stand auf 110 Prozent rund 25.000 Lehrkräfte! Eine Herkulesaufgabe für die Ministerin.

Sollte es diese Landesregierung aber schaffen, die 6.700 Stellen zu besetzen, dann hat sie wenigstens das Mindeste getan – versprochen hatte sie ursprünglich 10.000 zusätzliche Lehrkräfte. Dass dieses Versprechen nicht eingelöst wird, ist offensichtlich. Und auch wenn der Personalmangel in der Grundschule, den Schulformen der Sekundarstufe I und in den sozial benachteiligten Regionen wie dem Ruhrgebiet besonders gravierend ist, handelt es sich beim Lehrkräftemangel schon heute um ein flächendeckendes Problem.

Denn die grundständige Lehrkräfteausbildung an den Universitäten entwickelt sich krisenhaft. Die Zahl der Absolvent*innen ist in den letzten zehn Jahren rückläufig und wir haben eine hohe Studienabbruchsquote. Wenn die Ministerin allerdings in Abordnungen die Lösung sieht, dann wird der Mangel lediglich verschoben. Dadurch werden weder neue Stellen geschaffen noch wird das Berufsbild attraktiver und der Negativtrend aufgehalten. Wir als GEW NRW werden daher im neuen Schuljahr auf eine nachhaltige Lösung der Situation drängen, die mit besseren Arbeitsbedingungen Hand in Hand gehen muss. Der Lehrberuf muss attraktiver werden, damit weniger Beschäftigte aus dem System ausscheiden und damit sich mehr – gerade junge – Menschen für den Beruf entscheiden. Erforderlich ist eine Gesamtkonzeption zur Bekämpfung des Lehrkräftemangels, die sowohl langfristige Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität des Berufes als auch mittel- und kurzfristige Maßnahmen zum Inhalt hat. Wir haben ein Papier mit wirksamen Maßnahmen und möglichen Lösungsansätzen erarbeitet, die nicht nur innovativ sein, sondern auch einen möglichen Weg aus dem Mangel ebnen könnten.

Der Lehrberuf muss attraktiver werden, damit weniger Beschäftigte aus dem System ausscheiden und damit sich mehr – gerade junge – Menschen für den Beruf entscheiden.

Kurzfristig: Belastungen senken und ausländische Abschlüsse leichter anerkennen

Kurzfristig muss in den Schulen für Entlastung gesorgt werden, etwa indem Verwaltungsassistenzen und externes Personal für IT-Support eingestellt und Lehrkräfte von nicht pädagogischen Aufgaben befreit werden. Einige weitere Maßnahmen könnten sein: Unterstützung durch Fachkräfte in Multiprofessionellen Teams, beispielweise durch Sozialpädagog*innen und Schulsozialarbeiter*innen, Herabsetzung der Klassenfrequenzwerte – gerade in diesen herausfordernden Zeiten –, die Erhöhung der Leitungs- und Anrechnungsstunden, die Anpassung der Unterrichtsverpflichtung an den real gewachsenen Aufgabenumfang sowie die Reduktion der Anzahl der Klassenarbeiten einhergehend mit einer kritischen Überprüfung der Lehrpläne.

Auf diese Weise steigert man nicht nur die Attraktivität des Berufs, sondern auch die Zufriedenheit mit dem Job. Wer Lehrkraft wird, wird es nicht, um sich um Schulbücher zu kümmern oder Anträge zu schreiben. Lehrkräfte wollen junge Menschen auf ihrem Weg zu mündigen Mitbürger*innen begleiten, sie beraten und mit ihnen didaktisch-pädagogisch wirksam im Unterricht interagieren. Diese Maßnahmen generieren zwar nicht in kurzer Zeit neue Lehrkräfte, verhindern aber womöglich weitere Ausstiege aus dem Lehrberuf – auch das muss politisch mehr in den Blick geraten.

Um allerdings auch kurzfristig mehr Menschen an die Schulen zu bekommen, ist es zwingend erforderlich, ausländische Abschlüsse leichter anzuerkennen. Begleitend dazu müssen Programme wie Lehrkräfte Plus ausgeweitet und berufsbegleitende Qualifizierungen ermöglicht werden. Das Potenzial ist da. Wir sollten durch bürokratische Hürden die Menschen nicht davon abhalten, ihrem erlernten Beruf nachzugehen.

Ein Gesamtkonzept gegen den Lehrkräftemangel muss sowohl langfristige Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität des Berufes als auch mittel- und kurzfristige Maßnahmen beinhalten.

Mittelfristig: Qualität beim Seiteneinstieg verbessern und Quereinstieg ermöglichen

Mittelfristig fordern wir, den Quereinstieg für Bewerber*innen mit wissenschaftlichem Hochschulstudium für alle Schulformen im Sekundarbereich wieder zu ermöglichen sowie eine Qualitätsoffensive für den Seiteneinstieg an den Grund- und weiterführenden Schulen. Es braucht einen qualitativ hochwertigen Seiten- und Quereinstieg mit langfristigen Perspektiven im Schulsystem und einer angemessenen Bezahlung, sodass diese Menschen sich nicht nach wenigen Jahren auf prekären Stellen doch wieder aus dem Bildungssystem – enttäuscht und desillusioniert – verabschieden.

Es braucht Coaching und Mentoring-Programme, damit diese Kolleg*innen nicht alleingelassen und mit den Herausforderungen des Schulalltages sich selbst überlassen werden. Derzeit werden sie ins kalte Wasser geworfen. Auf diese Weise bleiben nicht nur Kompetenzansprüche an das Lehrer*innenverhalten sowie Qualitätsansprüche an den Unterricht, sondern auch die Menschen, die sich auf den Weg gemacht haben, häufig auf der Strecke. Berufsbegleitende Qualifizierungsmaßnahmen, Coaching in den ersten zwei Berufsjahren, eine Erhöhung der Anrechnungsstunden für Betreuungslehrkräfte sowie eine verbesserte Berufseinstiegsphase für alle neu eingestellten Lehrkräfte wären zielführend. Es braucht nämlich deutlich mehr Zeit für Ausbildung in allen Bereichen. Die Ausbildung darf weder für die Ausbildungsschule, die Ausbildungslehrkraft noch für die angehenden Lehrkräfte zu einer Belastung werden.

Den Seiteneinstieg sehen wir als einen möglichen Weg, durch den in relativ kurzer Zeit neue Lehrkräfte in die Schulen gebracht werden können – auch wenn das Tempo nicht die Qualität schlagen sollte. Wir brauchen einen qualitativ guten Seiteneinstieg, weil nur so Schulen und Schüler*innen davon profitieren werden! Perspektivisch muss das Ziel weiterhin natürlich darin bestehen, für ausreichend grundständig ausgebildete Lehrkräfte zu sorgen. Das erfordert mehr Zeit, ermöglicht aber erst die dringend benötigt vorausschauende Personalplanung.

Langfristig: Studium und Übergang in den Beruf attraktiver gestalten

Langfristig ist es deshalb unumgänglich, Studienkapazitäten, besonders für die Grundschule und sonderpädagogische Förderung, zu erhöhen, verstärkte Anstrengungen zur Vermeidung von Studienabbrüchen unter anderem durch den Ausbau der Beratungs- und Betreuungsinfrastruktur vorzunehmen und das Studium und den Übergang in den Beruf so attraktiv wie möglich zu gestalten.

Das heißt: Schluss mit der Befristungspraxis! Schluss damit, Lehraufträge mit Daueraufgaben zu betrauen! Dauerstellen für Daueraufgaben, nur so kann auch langfristig eine Beziehung zwischen Studierenden und Dozierenden aufgebaut werden. Grundsätzlich müssen auch in der Lehrer*innenausbildung innovative Wege mitgedacht werden – wie etwa schulformpolyvalente statt schulformspezifische Bachelorstudiengänge, um unter anderem den Wechsel im Studium zu ermöglichen.

Politik muss Rahmenbedingungen ändern

Lösungsansätze zur Lehrkräftegewinnung sind offensichtlich vorhanden – die Landesregierung könnte und sollte diese nutzen. Nur wenn die Rahmenbedingungen, die zur aktuellen Situation geführt haben, politisch verändert werden, gibt es die Chance auf eine nachhaltige Lösung. Das bedeutet, dass die Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte korrigiert und die strukturellen Probleme, die unser gesamtes Bildungssystem betreffen, angegangen werden müssen.

Die Landesregierung, die sich die „Zukunftskoalition“ nennt, muss hier politischen Veränderungswillen zeigen, sich endlich auf den Weg machen und insbesondere in die Zukunft investieren – und das heißt vor allem, Bildung in den Mittelpunkt stellen. Denn die Zukunftsfähigkeit unseres Landes setzt gute und sozialgerechte Bildung für alle Kinder und Jugendlichen voraus. An Bildung zu sparen, gefährdet unsere Demokratie. Entschlossenes Handeln tut jetzt Not. Die Zeit drängt.

Gemeinsam müssen wir deshalb dafür sorgen, dass unsere Bildungseinrichtungen nicht länger den Mangel verwalten und das Misslingen dokumentieren, sondern das Gelingen ermöglichen. Vor allem Kitas und Schulen müssen in die Lage versetzt werden, sozialmilieuspezifische und umweltspezifische Benachteiligungen auszugleichen, etwa über einen echten Sozialindex, der gerade benachteiligten Standorten zusätzliche Unterstützung und Ressourcen zuweist.

GEW NRW unterstützt Beschäftigte im Bildungsbereich

Als GEW NRW werden wir uns deshalb im gerade begonnenen Schuljahr für die Umsetzung unserer Lösungsansätze zur Lehrkräftegewinnung starkmachen. Und uns natürlich für alle Beschäftigten im Bildungsbereich einsetzen, unsere Expertise in den politischen Diskurs einbringen und notwendige Maßnahmen einfordern: für beste Lehr- und Lernbedingungen, für faire Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen. Besonders für die anstehende Tarifrunde TV-L im Herbst 2023 bedeutet das, dass wir für ein gutes Ergebnis mobilisieren werden, weil gute Tarifergebnisse nicht geschenkt, sondern erkämpft werden.

Liebe Kolleg*innen, für gute Bildung stehen wir an eurer Seite!