lautstark. 16.02.2024

Initialzündungen für eine Schule der Zukunft

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Wandel der Lernkultur

Es steht viel auf dem Spiel. Denn mit dem Gelingen schulischer Bildung entscheidet sich langfristig auch die Sicherung von sozialer Gerechtigkeit und Demokratie in Deutschland. Erste Initiativen zeigen, wie Schulsystemeund Unterrichtsprozesse verändert werden können, um Schüler*innen auf die Zukunft vorzubereiten. Dabei hat sich herausgestellt: Selbstverantwortliches Lernen und Partizipation sind grundlegende Elemente. Zugleich verlangtdieser Wandel in Zeiten von Lehrkräftemangel und schlechter Infrastruktur allen Beteiligten viel ab.

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  • Ausgabe: lautstark. 01/2024 | Zukunft von Bildung und Arbeit: Gute Aussichten?
  • Autor*in: Anne Petersohn
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Die Schule von morgen braucht neue Ansätze. "UnLearn School" heißt eine Kampagne, die mit althergebrachten Vorstellungen von Bildungsarbeit bricht. Sie lädt dazu ein, auf eine Entdeckungsreise zu gehen, Altes loszulassen und Neues auszuprobieren – ganz ohne Druck oder schlechtes Gewissen. Initiator*innen sind die Teammitglieder von "beWirken": Die gemeinnützige Organisation begleitet Schulen und Lehrkräfte in ganz Deutschland bei ihrem Transformationsprozess hin zu einer zukunftsfähigen Lernkultur.

„Unser Ziel ist ein Bildungssystem, das Menschen Raum gibt, ihr Potenzial zu entfalten, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten und aktiv an der Entwicklung der Gesellschaft mitzuwirken“, betont Geschäftsführer Björn Adam. Der Lernkulturwandel in Schule sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe mit höchster Priorität: „Wir befinden uns in einer Bildungskrise und haben aktuell wenig Lösungsansätze für die technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der kommenden Jahre. Schule muss Antworten auf diese Herausforderungen finden – sonst werden wir einen handfesten Wohlstandsverlust erleben.“

Björn Adam ist Teil eines multiprofessionellen Teams, das neben Bildungswissenschaften und Pädagogik auch weitere Bereiche – etwa Organisationsentwicklung – abdeckt. Denn abseits pädagogischer Konzepte seien auch gute Terminketten und klare Entscheidungswege wichtig, um Schule in kurzer Zeit ganzheitlich und nachhaltig zu verändern. „Im Mittelpunkt steht immer die Frage: Wie können nicht nur Unterricht und Lernraum, sondern auch die Schule als Organisation anders sein, um ein zeitgemäßes Lernen zu ermöglichen?“, erklärt Björn Adam. Eine vorgefertigte Lösung gebe es nicht. „Jede Schule, jeder Fall braucht individuelle Lösungen.“ Und doch orientiert sich die Beratungsarbeit der Organisation an zentralen Werten, wie sie auch der "OECD-Lernkompass 2030" beschreibt.

Schüler*innen durch Erfahrungen der Selbstwirksamkeit auf Herausforderungen ihres Lebens vorbereiten

Im Mittelpunkt steht der Gedanke, Schüler*innen Verantwortung für ihr Lernen zu übertragen: Erfahrungen der Selbstwirksamkeit im Schulalltag sollen ihnen ermöglichen, auf Herausforderungen in anderen Bereichen ihres (späteren) Lebens angemessen zu reagieren. Wichtige Voraussetzung für diesen Prozess ist ein unterstützendes und flexibel anpassbares Umfeld. „Damit einher geht eine deutliche Veränderung im Berufsbild der Lehrkräfte“, betont Björn Adam. „Statt frontal Wissen zu vermitteln, gestalten sie den Lernprozess. Sie übernehmen Begleitung und Coaching der Lernenden – idealerweise in multiprofessionellen Teams, die verschiedene Sichtweisen einbringen.“ Digitale Technologien dienten dabei nicht als Ersatz für Heft und Kreidetafel, sondern als unerlässliche Alltagswerkzeuge. „Sie helfen Schüler*innen, Themen zu recherchieren und Fragen zu beantworten. Denn in Zukunft werden junge Menschen Probleme lösen müssen, die wir aktuell noch gar nicht kennen.“

Beispiele aus der Beratungsarbeit des "beWirken"-Teams zeigen, wie sich die Ideen umsetzen lassen: Neben innovativen Lernformaten setzen viele Schulen auf partizipative Projekte abseits des klassischen Unterrichts – in Form von Schüler*innen- Genossenschaften, eigenverantwortlich geplanten Ausflügen oder ehrenamtlicher Arbeit in Kitas. In Videos, die projektbegleitend erstellt wurden und die sich auf der bewirken-Webseite angesehen werden können, berichten Kinder und Jugendliche begeistert, wie sie die neue Form der Beteiligung zu Höchstleistungen in verschiedensten Lebensbereichen anspornt.

Ein gleichförmiger Unterricht für alle kann heute nicht mehr funktionieren.

Integrierte Gesamtschule Südstadt in Hannover startete Schulentwicklungskonzept

Auch die Integrierte Gesamtschule (IGS) Südstadt in Hannover hat viele Impulse aus der Zusammenarbeit mit der Beratungsorganisation in ihren Schulentwicklungsprozess integriert. Über das Modellprojekt "Zukunftsschule" ist die Integrierte Gesamtschule vor eineinhalb Jahren in die Neugestaltung ihres Alltags gestartet. Das Niedersächsische Kulturministerium fördert insgesamt 65 Schulen auf ihrem Weg, innovative Unterrichtsformate auszutesten und sich im Sinne der Demokratiebildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) neu aufzustellen. Für die Leiterin der IGS Südstadt, Julia Grunewald, ist klar: Es gibt keinen anderen Weg, um Kinder und Jugendliche angemessen auf die Zukunft vorzubereiten. „Ein gleichförmiger Unterricht für alle kann heute nicht mehr funktionieren.“

Nach ihrer Gründung 2013 war die Schule über viele Jahre im Aufbau. „Wir haben lange auf einer Baustelle gelebt“, erzählt die Schulleiterin. Während Mensa, Bibliothek und offene Lernlandschaften entstanden, wuchs in der Schulgemeinde der Wunsch nach innovativen Lern- und Nutzungskonzepten für die neuen Räume. Mit dem Ende der Corona-Beschränkungen entstand die "#AG-2024" – eine Steuergruppe, die bereits vorhandene Ansätze ausbauen wollte. „Für uns war klar, dass wir viel Positives aus der Corona-Zeit mitnehmen können – etwa die täglichen Telefonate zwischen Schüler*innen und Lehrkräften. Da gab es viel Zeit für Gespräche außerhalb von unterrichtlichen Themen, und der Unterricht war sehr individuell an den Lernenden orientiert.“

In Zukunftswerkstätten fragte die IGS Südstadt die Wünsche der Schulgemeinschaft ab. Dabei spielte die Meinung der Schüler*innen von Anfang an eine große Rolle. „Kinder und Jugendliche kennen ihre Rechte und fordern sie auch ein – sie wollen beteiligt werden“, sagt Julia Grunewald. Unter Schüler*innen, Lehrkräften und Eltern manifestierte sich der Ruf nach individuell anpassbaren Lernformen und mehr Partizipation im Schulalltag. „Obwohl die Gruppen getrennt voneinander gearbeitet haben, wiesen die Ergebnisse in dieselbe Richtung.“ Aus den Ergebnissen entwickelten sich Pilotprojekte – „kleine Initialzündungen“, wie die Schulleiterin schmunzelnd berichtet.

In den Jahrgangsstufen fünf und sechs begehen Schüler*innen seither den „FREI DAY“. An einem festen Tag in der Woche haben sie die Chance, interessengeleitet an selbstgewählten Themen zu arbeiten – frei von Bewertungsdruck. „Unser Ziel ist es, diesen Tag auch auf die anderen Jahrgänge auszuweiten“, sagt Julia Grunewald. Parallel dazu arbeiten die Jahrgangsstufen 7 und 8 als iPad-Klassen. Jahrgang 9 erprobt ein offenes Lernkonzept, das ab dem kommenden Schuljahr mit Hilfe digitaler Technik für die Lernenden transparent abgebildet werden kann. Mehrere Unterrichtsstunden werden zu fächerübergreifenden Lernzeiten zusammengelegt, Inhalte zu Arbeitspaketen für die gesamte Woche gebündelt. Weiterführende Hilfen, Zusatzaufgaben und Erklärfilme können Lehrkräfte über eine digitale Lernplattform zugänglich machen. „Die Schüler*innen entscheiden dann, wann, wo und mit wem sie welche Inhalte bearbeiten möchten.“ Jeweils vier Jahrgänge teilen sich im neuen Gebäude ein Jahrgangscluster – mit Stammgruppen- und Differenzierungsräumen, einer Lehrkräfte-Teamstation und offenen Lernbereichen auf den Fluren. So können Kinder und Jugendliche wechselnde Kooperationspartner*innen und für sie passende Lernorte finden.

Lernprozesse auf unterschiedlichen Ebenen bereiten auf zukünftige Arbeitswelt vor

Über die Neuerungen hätten Schüler*innen Zugang zu einem Lernprozess auf unterschiedlichen Ebenen. „Sie bekommen ein Gespür für ihre Stärken und Schwächen und können flexibel auf Situationen reagieren – das ist gerade mit Blick auf die zukünftige Arbeitswelt wichtig, wo man nicht 40 Jahre lang denselben Job machen wird“, sagt Julia Grunewald. Auch der kompetente Umgang mit digitalen Technologien sei unerlässlicher Bestandteil einer zukunftsgerichteten Lernkultur – etwa die Frage, wie sich Künstliche Intelligenz produktiv nutzen lasse. Stärker denn je müsse aber auch die Fähigkeit zur Kooperation gefördert werden: „Gerade in Zeiten, in denen Kinder und Jugendliche viel Zeit am Handy verbringen und weniger in Sportvereinen aktiv sind, sollte Schule diese Kompetenzen vermitteln.“

Neben einer modernen Infrastruktur bräuchte es vor allem Personal, um Server und Endgeräte zu verwalten, um Lehrkräfte zumindest in dieser Hinsicht zu entlasten.

Schulen brauchen moderne Infrastruktur und auskömmliche Finanzierung

Für eine "Schule der Zukunft" engagiert sich auch Sven Bechen. Der Sprecher des Bündnisses "Bildungswende JETZT!" wünscht sich, dass Beteiligungsstrukturen für Kinder und Jugendliche strukturell in Lehrplänen verankert werden – und somit schulübergreifend umgesetzt werden müssen. „Es darf nicht vom Engagement der Schulleitung abhängen, in welchem Umfang Schüler*innen partizipieren können. Schließlich geht es um die demokratische Meinungsbildung“, betont Sven Bechen, der mit seinem Bündnis einen Appell mit vier Forderungen an die Bildungspolitik formuliert hat – die GEW NRW gehört zu den ersten Unterzeichnenden und beteiligte sich am Bildungsprotesttag im September 2023. Die Zukunftsthemen Klima und Nachhaltigkeit würden derzeit unzureichend im Unterricht abgebildet – ebenso wie der große Bereich der Digitalisierung. „Neben einer modernen Infrastruktur bräuchte es vor allem Personal, um Server und Endgeräte zu verwalten – zum Beispiel eine*n Fachinformatiker*in Systemintegration an jeder Schule, um Lehrkräfte zumindest in dieser Hinsicht zu entlasten.“ Voraussetzung sei eine auskömmliche Finanzierung des Bildungssystems – 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, mindestens 100 Milliarden Euro.

Den Bedarf für zusätzliche Ressourcen sieht auch Björn Adam. „Schulen brauchen Geld- und Zeitbudgets, um solch tiefgreifende Veränderungen zu bewältigen. Und ein solcher Weg bringt mit sich, dass Unterricht oder Schulalltag temporär auch mal nicht wie gewohnt stattfinden“, sagt der "beWirken"-Geschäftsführer. Ein offener Blick auf andere Professionen – etwa Schulpsycholog* innen oder -sozialarbeiter*innen – könne neue Unterstützungspotenziale in Zeiten des Lehrkräftemangels eröffnen. „Ansonsten gilt es, kreativ mit den vorhandenen Ressourcen umzugehen und sich Inspiration von außen zu holen. Denn wir müssen den Wandel jetzt angehen.“

Mit diesem Gedanken hat auch die IGS Südstadt vorhandene Potenziale ausgeschöpft, um ihren Veränderungsprozess auf den Weg zu bringen. Bis zum neuen Schuljahr will die Schule ihre Erfahrungen aus der Pilotphase in verbindliche Vorgaben für den zukünftigen Schulalltag gießen. Der Weg dorthin sei mit viel Arbeit verbunden, betont Julia Grunewald. Gerade die Umstellung auf die neuen Unterrichtsformate verlange dem Kollegium viel ab: „Einen Lernprozess methodisch abwechslungsreich und intuitiv zu gestalten, erfordert erst einmal einen großen Aufwand.“ Doch auch zunächst skeptische Kolleg*innen hätten inzwischen einen guten Zugang zu den neuen Methoden gefunden. „Es ist eine Mammutaufgabe. Doch wir glauben fest daran, dass unsere Bemühungen das spätere Lernen und Zusammenleben an der Schule wesentlich angenehmer machen.“

Für die GEW NRW sind viele verschiedene pädagogische Professionen an Schulen eine wichtige Voraussetzung, um individuelles Lernen zu ermöglichen. „Die Schüler*innenschaft heute ist heterogen. Schüler*innen bringen komplett unterschiedliche Talente, familiäre Backgrounds und Potenziale mit, auf die sich die an Schulen Beschäftigten einstellen müssen. Unterschiedliche fachliche Sichten sind dafür unerlässlich“, sagt Frauke Rütter, Expertin der GEW NRW für den Bereich Schule. Wichtig sei, dass grundständig ausgebildete Lehrkräfte nicht durch andere Professionen ersetzt werden können. Andere Professionen, die in Zeiten des Lehrkräftemangels an Schulen kommen und als Lehrkräfte fungieren sollen, müssten je nach Vorkenntnissen fachlich oder didaktisch fortgebildet werden.

Hintergrund

Bildungssysteme mit dem "OECD-Lernkompass 2030" verändern

Der "OECD-Lernkompass 2030" wurde von den Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erarbeitet und im Mai 2019 vorgestellt. Ausgangspunkt ist die Frage, welche Kompetenzen Schüler*innen zur Gestaltung einer lebenswerten Zukunft 2030 benötigen. Die Idee: Kinder und Jugendliche übernehmen mehr Verantwortung für ihr Lernen und werden damit befähigt, für das Wohl der Gesellschaft und der Erde einzutreten. Dabei dient der Lernkompass als Rahmenkonzept für den Wandel nationaler Bildungssysteme.

"OECD-Lernkompass 2030"