lautstark. 17.05.2023

Das Berufskolleg im Bildungssystem von NRW

BerufskollegAusbildungBildungsfinanzierungChancengleichheit

Ein verborgener Riese

Welche Rolle das Berufskolleg im nordrhein-westfälischen Bildungssystem spielt, hat Wirtschaftspädagoge Professor Dr. Dieter Euler in seiner Studie herausgearbeitet. Für uns fasst er ausgewählte Befunde zusammen und macht deutlich: Das Berufskolleg bietet ein breites, beeindruckendes Leistungsspektrum und wird von der NRW-Bildungspolitik zu sehr vernachlässigt.

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  • Ausgabe: lautstark. 03/2023 | Berufliche Bildung: Die Zukunft gestalten
  • Autor*in: Dieter Euler
  • Funktion: Professor für Wirtschaftspädagogik und Bildungsmanagement an der Universität St. Gallen/Schweiz
Min.

Im Ausland hoch geschätzt – in Deutschland zunehmend kritisiert? Wirtschaftspädagoge Karlheinz Geißler verglich das deutsche System der dualen Berufsausbildung schon vor vielen Jahren mit Venedig – der Blick zurück zeigt die Lagunenstadt in historischem Glanz, der Blick nach vorn offenbart drohenden Zerfall und Untergang. Die Berufsbildung wirkte in Deutschland maßgeblich an der Entwicklung einer leistungsfähigen Wirtschaft und stabilen Sozialordnung mit. Aktuell ist sie jedoch unter Druck geraten: Welche Beiträge leistet sie zur Sicherung qualifizierter Fachkräfte? Was trägt sie zur sozialen Integration und Überwindung von Bildungsungleichheiten bei? Bietet sie jungen Menschen hinreichend Angebote zur Persönlichkeitsentwicklung?

Diese und weitere Fragen werden in der Studie Die Rolle des Berufskollegs im nordrhein-westfälischen Bildungssystem – Leistungspotenziale, Herausforderungen und Ansätze zur Weiterentwicklung aus dem Jahr 2022 untersucht. Das Berufskolleg ist in NRW die Schulform mit den meisten Schüler*innen. Sie ist zugleich die Schulform mit der größten Vielfalt: Die 16 Bildungsgänge umfassen das gesamte Spektrum der beruflichen Bildung:

  • Übergangssektor,
  • duale Berufsausbildung,
  • Schulberufssystem und
  • berufliche Weiterbildung.

In der Studie wird das Leistungsspektrum und -potenzial des Berufskollegs herausgearbeitet und dabei analysiert, was diese Schulform innerhalb bestehender Rahmenbedingungen zur Förderung übergreifender berufsbildungspolitischer Ziele beitragen kann. Zugleich werden Handlungsbedarfe identifiziert und Ansätze zu deren Bewältigung vorgeschlagen.

Das Berufskolleg bietet viele Bildungsgänge an, die neben einem guten Übergang in Ausbildung und Beschäftigung auch eine profunde Allgemeinbildung bieten.

Bildungsbiografien an NRW-Berufskollegs so heterogen wie an keiner anderen Schulform

6,1 Prozent der Schüler*innen besuchen das Berufskolleg ohne Schulabschluss. Zugleich wächst der Anteil der Schüler*innen in der Berufsschule auf über 40 Prozent, die mit einer Hochschulzugangsberechtigung (HZB) in die duale Ausbildung eintreten. Diese Ausgangsdaten illustrieren, dass das Berufskolleg in NRW die Schulform mit dem höchsten Grad an Heterogenität in der Schüler*innenschaft darstellt. Dies macht die pädagogische Arbeit für die Lehrkräfte abwechslungsreich und spannend, zugleich aber auch herausfordernd.

Noch immer verlässt ein beträchtlicher Teil der Schüler*innenschaft das Berufskolleg ohne einen (weiteren) Abschluss: 2013 lag der Anteil bei 30,4 Prozent, 2020 bei 26,3 Prozent. 31 Prozent aller allgemeinbildenden Abschlüsse, 83 Prozent aller Fachhochschulreifen und 32,8 Prozent der HZB wurden 2020 in NRW an einem Berufskolleg erworben.

Übergangssektor: verschiedene Anforderungen innerhalb der unterschiedlichen Bildungsgänge

Die Bildungsgänge im Übergangssektor wurden nach einer Reform 2015 dualisiert ausgerichtet, das heißt, sie schließen praktische Lern- und Arbeitsphasen ein. Mit Blick auf die starke Zuwanderung von Asyl- und Schutzsuchenden 2015 / 2016 leistete das Berufskolleg einen zentralen Beitrag zur sozialen Integration dieser Menschen. Das Berufskolleg ist dabei vielfältig gefordert. Neben dem Ausgleichen kognitiver und sozialer Startnachteile sind zunehmend sprachliche Kompetenzlücken zu schließen.

Der Erwerb eines (weiteren) Schulabschlusses in den schulischen Bildungsgängen des Übergangssektors gelingt einem Teil der Schüler*innen: Von den circa 27.000 Lernenden in der Ausbildungsvorbereitung (AV) erreichten 2020 circa 7.700 den Hauptschulabschluss, von den circa 9.000 Schüler*innen der Berufsfachschule mit dem Ziel Hauptschulabschluss nach Klasse 10 erreichten 5.600 dieses Ziel.

Es gelingt auch in NRW nur bedingt, die verfügbaren Fachkräftepotenziale zu sichern. Rechnerisch erreichen circa 58 Prozent der in eine AV eingemündeten Jugendlichen nach ein bis drei Jahren den Einstieg in eine duale Berufsausbildung. In der Studie werden Optionen vorgeschlagen, über die subsidiäre Schaffung von staatlich geförderten Ausbildungsplätzen mehr Jugendliche zu einem qualifizierten Ausbildungsabschluss zu führen.

Duale Berufsausbildung: größter Teil der Schüler*innenschaft am Berufskolleg

In NRW wird mehr als die Hälfte der Schüler*innenschaft am Berufskolleg in einer der nach Stand 2019 insgesamt 15.494 Fachklassen im schulischen Teil der dualen Berufsausbildung unterrichtet. Die Zahl der Schüler*innen nahm zwischen 2013 und 2020 insgesamt um etwa 9 Prozent ab. Deutliche Rückgänge verzeichnen insbesondere die Fachbereiche Ernährung / Hauswirtschaft mit minus 37,5 Prozent, Gestaltung mit minus 23,9 Prozent sowie der am stärksten besetzte Bereich Wirtschaft / Verwaltung  mit minus 16 Prozent. Die Rückgänge können je nach Beruf und Region das Fachklassenprinzip gefährden.

Schulberufssystem: Beitrag zur Anhebung beruflicher Kompetenzniveaus

Schulbasierte berufliche Qualifizierungen können in insgesamt acht Bildungsgängen der Berufsfachschule (BFS), der Fachoberschule (FOS) und des Beruflichen Gymnasiums erworben werden. Das Schulberufssystem trägt wesentlich dazu bei, allgemeinbildende Schulabschlüsse in einer beruflichen Ausrichtung anzubieten. Damit leistet das Berufskolleg insgesamt einen wichtigen Beitrag zur Anhebung beruflicher Kompetenzniveaus, die den Bedarfen an flexibel ausgebildeten Fachkräften entsprechen.

In einzelnen Berufsfeldern wie dem Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialbereich erfolgt die Berufsausbildung ausschließlich in schulbasierten Formen der Berufsausbildung. Bei fehlenden dualen Ausbildungsstellen können Lücken auf einem Ausbildungsmarkt durch die (verstärkte) Schaffung von schulbasierten Bildungsgängen kompensiert werden. Regionale Qualifizierungsbedarfe in zukunftsbedeutsamen Sektoren deuten häufig auf sich anbahnende oder verändernde Arbeitsmarkt- beziehungsweise Berufsstrukturen hin und können über schulbasierte Bildungsangebote früh identifiziert werden.

Die Absolvent*innenzahlen in den verschiedenen Bildungsgängen sind insgesamt konstant und deuten darauf hin, dass die Neuzugänge weniger aufgrund fehlender Alternativen, sondern mehr aufgrund der als attraktiv eingeschätzten Bildungsgangprofile zustande kommen. Die Abbruchzahlen im Beruflichen Gymnasium liegen bei 12 bis 14 Prozent, an der BFS bei 24 bis 28 Prozent und in der FOS 11 / 12 bei 10 bis 12 Prozent. Dies sind Werte, die im Vergleich zu den Vertragslösungszahlen, also den Abbruchzahlen, im dualen System als moderat einzustufen sind.

Berufliche Weiterbildung: Deckung fachlicher Qualifikationsbedarfe in der Region

Die Fachschule dient innerhalb des Berufskollegs der beruflichen (Aufstiegs-)Weiterbildung und ermöglicht zudem den Erwerb der Fachhochschulreife und des mittleren Bildungsabschlusses. Sie trägt mit differenzierten Weiterbildungsgängen zur Deckung fachlicher Qualifikationsbedarfe in der Region bei. Durch die unterschiedlichen Bildungsgänge und die in ihnen unterrichtenden Lehrkräfte bildet das Berufskolleg ein regionales Kompetenzzentrum, das die laufenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Region unterstützt. Diese Funktion des Berufskollegs ist insbesondere in Regionen wie dem Ruhrgebiet von besonderer Bedeutung, wenn der durch ökonomische und politische Entwicklungen ausgelöste Strukturwandel sowohl durch re- als auch proaktive Bildungskonzepte begleitet werden soll.

Leistungsspektrum des Berufskollegs endlich mehr in den Vordergrund stellen

Angesichts des breiten, beeindruckenden Leistungsspektrums des Berufskollegs ist es doch überraschend, wie wenig hierüber in Politik und bildungspolitischer Fachöffentlichkeit bekannt und berichtet wird. Während andere Schulformen regelmäßig die Schlagzeilen der Medien füllen, wirkt das Berufskolleg eher unscheinbar im Hintergrund.

Dies ist schade, da das Berufskolleg viele Bildungsgänge anbietet, die bei genauer Kenntnis für viele Jugendliche eine große Attraktivität besitzen und neben einem guten Übergang in Ausbildung und Beschäftigung auch eine profunde Allgemeinbildung bieten. Insofern ist zu hoffen, dass nicht zuletzt die Bildungspolitik in NRW seinen verborgenen Riesen angemessen ausstattet und sichtbarer in Szene setzt.

Das fordert die GEW NRW

Berufskollegs zukunftsfähig ausstatten

Gut ein Fünftel aller Schüler*innen in NRW besuchen ein Berufskolleg und machen dort einen (weiteren) Schulabschluss oder absolvieren den schulischen Anteil ihrer dualen Ausbildung. Die Berufskollegs sind damit gerade in Zeiten des Fachkräftemangels eine tragende Säule der beruflichen Bildung in NRW. 

Die Komplexität der zahlreichen Bildungsgänge und Abschlüsse sowie die Heterogenität der Schüler*innenschaft stellt das Berufskolleg dabei vor enorme Herausforderungen. Um seinen vielfältigen Anforderungen gerecht werden zu können, benötigt das Berufskolleg ausreichende Ressourcen. Insbesondere deshalb, weil es nicht nur zahlreiche Abschlüsse bis hin zum Abitur sowie weitere Qualifikationen ermöglicht, sondern weil es einen erheblichen Anteil daran hat, dass alle jungen Menschen mehr Chancengleichheit erfahren.

Dringend müssen zudem die Arbeitsbedingungen so verbessert werden, dass qualifizierte Fachkräfte nicht in die Wirtschaft abwandern, sondern sich dafür entscheiden, als Lehrkraft an einem Berufskolleg zu arbeiten. Gleichzeitig müssen an Berufskollegs auch zusätzliche Stellen für multiprofessionelle Teams geschaffen und der Anspruch sonderpädagogischer Förderung muss wiederhergestellt werden. Nur dann kann das Berufskolleg dauerhaft seinen Beitrag leisten: zur Chancengleichheit, zur Ausbildung der Fachkräfte und zur Transformation der Wirtschaft.

Stephan Osterhage-Klingler
stellvertretender Vorsitzender der GEW NRW