

Barrierefreiheit ist kein Nice-to-have, sondern ein Menschenrecht, das sowohl in Artikel 9 der UN-Behindertenrechtskonvention als auch in nationalen Gesetzen klar definiert und verankert ist, wie im Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, Behindertengleichstellungsgesetz § 4 und Behindertengleichstellungsgesetz NRW §§ 7–10.
Vier Dimensionen für Barrierefreiheit: auffindbar, zugänglich, nutzbar und verständlich
Um Barrierefreiheit in Organisationen und Verbänden praktikabel umzusetzen, bietet sich eine Systematisierung in vier Dimensionen an, die die Komponenten Auffindbarkeit, Zugänglichkeit, Nutzbarkeit und Verständlichkeit berücksichtigt. Wenden Organisationen diese vier Dimensionen an, bedeutet dies, dass
- alle Angebote und Informationen für alle Menschen auffindbar sein sollten, indem es beispielsweise Orientierungs- und Leitsysteme vor und in Dienstgebäuden und Veranstaltungsräumen sowie Wegweiser in Braille-Schrift gibt,
- alle Angebote und Informationen für alle Menschen zugänglich sein sollten, indem beispielsweise Türen breit genug sind und sich automatisch öffnen, und die Website screenreadertauglich ist,
- alle Angebote und Informationen für alle Menschen nutzbar sein sollten, indem beispielsweise wichtige Dokumente barrierefrei sind, es auf Veranstaltungen Dolmetscher*innen für Gebärdensprache gibt sowie Meetings und Arbeitssitzungen genügend Pausenzeiten haben,
- alle Angebote und Informationen für alle Menschen verständlich sein sollten, indem die analoge und digitale Kommunikation die verschiedensten Kommunikationsbedarfe von unterschiedlichsten Menschen berücksichtigt und sich grundsätzlich an folgenden drei Prinzipien orientiert:
- Zwei-Sinne: Das Zwei-Sinne-Prinzip bedeutet, dass bei der Informationsübermittlung mindestens zwei der drei Sinne Sehen, Hören, Fühlen (im Sinne von Tasten) angesprochen werden müssen.
- KISS: Die Abkürzung KISS bedeutet „keep it short and simple“. Das bedeutet, dass Informationen immer möglichst kurz und verständlich kommuniziert werden sollen.
- Gleichberechtigung: Die Kommunikation muss gleichberechtigt und fair sein. Die Interaktionspartner*innen müssen sich in ihrer individuellen Vielfalt – mit all ihren kommunikativen Stärken und Schwächen – respektieren und auf Augenhöhe begegnen. Dazu gehört auch, dass es keine grundsätzliche Wertung zwischen den einzelnen Kommunikationsformen gibt. Jede Art der Kommunikation ist gleich wichtig.
Die Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben NRW (KSL.NRW) haben hilfreiche Erklärvideos zur barrierefreien Kommunikation, bezogen auf Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen, erstellt, die auf der Website zur Verfügung stehen.
GEW NRW will barrierefrei werden
Auf dem Gewerkschaftstag 2024 haben die Delegierten beschlossen, dass sich die GEW NRW auf den Weg machen soll, „Barrierefreiheit in der gesamten Organisation schrittweise zu realisieren“ (Antrag O009). Für Gliederungen und Gremien der GEW NRW stehen mittlerweile erste Informationen zur Verfügung, um E-Mails und Einladungen für Veranstaltungen barrierefrei erstellen zu können. Darüber hinaus finden im Juni 2025 zwei erste Fortbildungsangebote statt, in denen die Teilnehmenden lernen, wie Dokumente barrierefrei erstellt werden können. Weitere Veranstaltungen sind in Planung. Für GEW-Mitglieder, -Gremien und -Gliederungen gibt es außerdem ein E-Mail-Postfach, das über die E-Mail-Adresse barrierefrei@gew-nrw.de erreicht werden kann. Fragen und Anregungen zum Thema können dorthin geschickt werden. Zudem werden allen Interessierten Informationen über eine Cloud zur Verfügung gestellt. All dies sind erste Schritte, um Barrierefreiheit mittel- und langfristig in allen Bereichen unseres gewerkschaftlichen Handelns zu implementieren. Weitere Schritte werden folgen, wir halten euch auf dem Laufenden.
Stephan Osterhage-Klingler
stellvertretender Vorsitzender der GEW NRW
Mehr Infos zur Barrierefreiheit in der GEW-Cloud
Mit dem universellen Design allen Teilhabe ermöglichen
Eine weitere Methode, die Organisationen und Verbänden auf dem Weg zu Barrierefreiheit hilft, ist die Orientierung am „universellen Design“. Laut Artikel 2 der UN-Behindertenrechtskonvention bedeutet „universelles Design“ ein Design von Produkten, Umfeldern, Programmen und Dienstleistungen, das von allen Menschen möglichst weitgehend ohne eine Anpassung oder ein spezielles Design genutzt werden kann. In Europa hat sich in enger Anlehnung an das „universelle Design“ der Ansatz des „Designs für alle“ entwickelt. Laut dem Verein Design für Alle – Deutschland e. V. (EDAD) gibt es fünf wichtige Kriterien für die erfolgreiche Entwicklung von barrierefreien Dienstleistungen, Infrastrukturen und Produkten:
- Gebrauchsfreundlichkeit: Produkte und Dienstleistungen so gestalten, dass sie einfach und sicher nutzbar sind
- Anpassbarkeit: Produkte und Dienstleistungen so entwickeln, dass unterschiedliche Nutzer*innen sie an ihre individuellen Bedürfnisse anpassen können
- Nutzer*innenorientierung: Nutzer*innen und deren Perspektiven von Beginn an im Prozess berücksichtigen
- Ästhetische Qualität: Nur attraktive Produkte und Dienstleistungen können alle erreichen
- Marktorientierung: Produkte und Dienstleistungen breit positionieren, um das gesamte Marktpotenzial optimal auszuschöpfen
Vor der inklusiven Organisation steht die Selbstkritik
Insbesondere der Aspekt der Nutzer*innenorientierung sollte für Organisationen und Verbände wie die GEW NRW eine zentrale Rolle spielen. Dabei profitieren von einem universellen Design alle Zielgruppen und nicht nur Menschen mit Behinderung. Hier zeigt sich, dass Barrierefreiheit nicht losgelöst von den Themen Partizipation, Empowerment und Diversity Mainstreaming betrachtet werden kann. Wollen Organisationen inklusiv sein, sollten sie sich selbstkritisch folgende Fragen stellen:
- Wie barrierefrei sind Angebote, Dienstleistungen und Materialien? Es sollten zum Beispiel alle Materialien gemäß den aktuellen Anforderungen umfassend geprüft werden.
- Wie gut gelingt es, eine inklusive Organisationskultur zu manifestieren? Es sollte zum Beispiel eine offene und vertrauensvolle Atmosphäre vorherrschen, die nicht von Leistungsdruck und Konkurrenzdenken, sondern von gegenseitiger Unterstützung und Wertschätzung der individuellen Heterogenität geprägt ist.
- Wird eine barrierefreie Partizipation als wichtige Erfolgsbedingung der Arbeit ausnahmslos und ohne Einschränkung durch alle Beteiligten anerkannt? Mögliche diskriminierende institutionelle Beharrlichkeiten und Ausgrenzungsmechanismen sollten dafür beispielsweise überwunden werden.
- Können Mitarbeitende mit und ohne Behinderungen in allen Arbeitsbereichen, Gremien, Positionen und zu sämtlichen Themenstellungen der Organisation gleichberechtigt tätig werden? Sitzungen, Arbeitsplätze und Dokumente sollten barrierefrei sein.
- Wie wird bei der Neubesetzung von Stellen und bei der Gewinnung von Mitgliedern die gesellschaftliche Vielfalt berücksichtigt? Dies könnte umgesetzt werden, indem Stellenausschreibungen und Werbematerialien barrierefrei gestaltet werden sowie durch inklusive Bewerbungsverfahren, in denen Behinderungen grundsätzlich als positives Einstellungsmerkmal angesehen werden.
- Wie werden gezielt Mitarbeitende und Mitglieder mit Behinderung gefördert und unterstützt? Hier braucht es zum Beispiel Empowerment-Schulungen und besondere Settings.
- Wie werden die Rechte von Mitgliedern und Mitarbeitenden mit Behinderung in der Organisation vertreten? Es sollte beispielsweise eine Schwerbehindertenvertretung sowie einen inklusiven Betriebsrat geben.
- Wie stark nimmt die Organisation ihre eigene Vorbildrolle in puncto Inklusion und Barrierefreiheit wahr und vertritt diese auch nach außen? Hier könnte es eine partizipative und barrierefreie Öffentlichkeitsarbeit zu Inklusionsthemen geben.
Damit in Organisationen alle Menschen gleichberechtigt und selbstbestimmt teilhaben können, ist es wichtig, sich diese Fragen offen und ehrlich zu stellen und mögliche Barrieren mit Mut, Kreativität und Tatkraft zu überwinden.
Lektüretipp
Barrierefreie Partizipation
Miriam Düber, Albrecht Rohrmann und Marcus Windisch
Barrierefreie Partizipation
Entwicklungen, Herausforderungen und Lösungsansätze auf dem Weg zu einer neuen Kultur der Beteiligung
Beltz Juventa, 1. Auflage 2015, 420 Seiten | 36,99 Euro
ISBN: 978-3-7799-4215-3