Schule 30.09.2019

Gummi-Gockel steht für ein Stück Gesamtschulgeschichte

GesamtschuleMedienkompetenz

Reformmodell startete vor 50 Jahren in Kierspe

In diesem Jahr wird die Gesamtschule 50 Jahre alt. Höchste Zeit eine Vorreiterschule in Nordrhein-Westfalen zu portraitieren. Die Gesamtschule in Kierspe war 1969 eine der ersten Gesamtschulen in NRW. Bis heute setzt sie mit ihrem Schwerpunkt auf Kreativität Maßstäbe.

  • Autor*in: Rüdiger Kahlke
  • Funktion: freier Journalist
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Den Gummi-Gockel präsentiert Tobias Voswinkel wie eine Trophäe. „Er kommt in jedem zweiten Stück vor“, schätzt der Pädagoge. Das weiße Gummi-Tier ist das wohl meistbenutzte Requisit in der Gesamtschule Kierspe (GSK). Ihr immenser Fundus ist das Ergebnis einer ausgeprägten Theaterkultur an der Schule, die mit ihrer Gründung vor 50 Jahren auch zum Zentrum des kulturellen Lebens in Kierspe wurde.

Tobias Voswinkel ist Herr über hunderte von Ausstattungsstücken. Im Bauch der GSK sortiert er den Fundus des Fachbereichs „Darstellen und Gestalten“. Hier, wo es eigentlich dunkel ist, entstehen seit dem Start der Gesamtschule Leuchtturmprojekte: eigene Theaterstücke, bei denen bis zu 100 Schüler*innen mitwirken. Bauliche und technische Ausstattung waren ein Pfund, mit dem die Schule glänzen und Lehrkräfte in die Provinz locken konnte. Das Pädagogische Zentrum mit Tonstudio und Lichtregie hatte Johannes Koch, ehemaliger Lehrer an der Gesamtschule, gleich bei der ersten Besichtigung begeistert. Ihm war sofort klar: „An dieser Schule kannst du dich musikpädagogisch und theatermäßig austoben. Vorausgesetzt sie nehmen dich.“

„Führt Gesamtschule auch zum Abitur?“

So euphorisch waren die Kiersper zunächst nicht. Wird die Gesamtschule demnächst zum Abitur führen? Diese Frage beschäftigte die Eltern bei einem Infoabend im Januar 1969 – sieben Monate vor dem Schulstart. Sie konnte schnell geklärt werden: „Gesamtschule führt direkt zur Uni“, titelte die Westfälische Rundschau nach der Veranstaltung. Das ist Geschichte. Inzwischen haben etwa 4.000 Schüler*innen an der GSK ihr Abi gemacht. Etliche sind zurück gekommen, haben nach dem Studium selbst an „ihrer“ Schule unterrichtet. Vor 50 Jahren begann in NRW eine neue Schul-Ära.

Zeitgleich mit Kierspe gingen in Dortmund, Fröndenberg, Gelsenkirchen, Kamen, Oberhausen und Münster sechs weitere Gesamtschulen an den Start. Damit setzte die NRW-Landesregierung eine Empfehlung des Deutschen Bildungsrates um, wonach Gesamtschulen als Versuchsschulen sowohl im ländlichen Raum als auch in Städten verschiedener Größenordnung eingerichtet werden sollten. Die Gesamtschule „hat neue didaktische Konzepte und Methoden entwickelt. Und somit hat sie auch die vielfältige Schullandschaft der heutigen Zeit ein Stück weit mitgestaltet“, schreibt Schulministerin Yvonne Gebauer im Grußwort zur Jubiläumsfeier der Kiersper Gesamtschule.

„Wir unterrichten Schüler, nicht Fächer“

Sie zog Lehrkräfte aus ganz Deutschland an. Im Aufbruchgeist der 1968er-Jahre wollten viele etwas Neues entwickeln. Ziel war „eine Schule für wirklich alle Kinder und Jugendliche, an der die soziale, kulturelle und ökonomische Herkunft endlich nicht mehr über die Zukunft und Lebensperspektiven entscheiden sollte“, so Schulleiter Johannes Heintges in seinem Rückblick. Getreu dem Anfangsmotto „Wir unterrichten Schüler, nicht Fächer!“ sollte jedes Kind so gefördert werden, dass es einen Abschluss erreicht, der seinen eigenen Fähigkeiten auch entspricht.

Anziehungspunkt für engagierte Lehrkräfte

Gerd Hüttemann (76) überzeugte das. Der Maschinenbauer aus Essen kam als Quereinsteiger nach Kierspe. Er blickt zurück auf eine „schöne Zeit als Lehrer in Religion und Technik. Oft träume ich auch nach elf Jahren Ruhestand noch angenehm von der Gesamtschule Kierspe.“ Seine Tochter Julia machte an der GSK ihr Abitur und kam als Lehrerin an die Schule zurück, die ihr ein Stück „Heimat“ bedeutet. Die GSK hat auch Astrid Hettesheimer geprägt. Nach einer Banklehre kehrte sie als Lehrerin an „ihre GSK“ zurück, um jungen Menschen „Lust am Lernen geben und sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützen“. Das macht sie nun als Abteilungsleiterin an der GSK. Für Gudrun Schümann (58) war die Kiersper Schule „wie ein zweites Zuhause. Wir waren eine einmalige Community“, schwärmt die Redakteurin einer Mediengruppe. Clemens Wieland, Banker, haben die musische Bildung, „insbesondere das Theaterspiel, aber auch das Lernen von Instrumenten“ geprägt. „Davon zehre ich noch“, wird er in der Festschrift zitiert.

Breiter politischer Konsens in Kierspe

Dabei war die neue Schulform neben dem klassischen dreigliedrigen System politisch hoch umstritten. Ausnahme Kierspe. In breitem Konsens hatte der Rat für die integrierte Gesamtschule votiert. Sie nahm am 25. August 1969 ihren Betrieb auf. Eltern freundeten sich schnell mit dem neuen System an. 92,8 Prozent der Kiersper Grund- und Hauptschüler*innen wurden an der GSK angemeldet. Das Interesse überstieg die Erwartungen.

Aus anfangs 360 Schüler*innen sind inzwischen rund 1.500 geworden. Aus dem Reformmodell wurde 1981 eine Regelschule, eine mit Strahlkraft. Sie wurde „zu einer Pilgerstätte und Ideenbörse für alle, die neugierig auf dieses neue Konzept waren“, heißt es selbstbewusst auf der Webseite der Schule. Gesamtschulgründungen im ländlichen Raum orientierten „sich oft am Kiersper Beispiel“. Etliche Lehrkräfte aus Kierspe übernahmen die Leitung neuer Gesamtschulen.

Jubiläumsfeier mit Raum zur Begegnung

Am 28. September wurden in Kierspe Jubiläum und Pioniergeist gefeiert. Die GSK präsentierte sich „als lebendige, offene Schule“, aber auch als Schule mit Kontinuität. Jüngeren fehlt der Bezug zu den Gründerjahren, zur Aufbruchstimmung, Visionen, Experimenten, von denen die Alten noch schwärmen. Fast die Hälfte der Kollegiums ist erst in den letzten sieben Jahren die Schule gekommen, rechnet Johannes Heintges vor. Die Feier bot neben offiziellen Redebeiträgen viel Raum für Begegnung, für Austausch zwischen aktuellen und ehemaligen Schüler*innen und Lehrkräften. Und manche erinnerten sich an das Huhn. „Keiner weiß, wo es herkommt. Es verschwindet aber auch nicht“, schmunzelt Tobias Voswinkel. Das Theater-Huhn ist in Zeiten der Fokussierung auf MINT-Fächer auch ein Fixpunkt lebendiger Kiersper Gesamtschulgeschichte.