Chancengleichheit 21.11.2017

Schule muss Armut in den Mittelpunkt rücken

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Schule muss Armut in den Mittelpunkt rücken

Aufstiegschancen von Kindern unterschiedlicher Milieus

Aufstieg durch Bildung – mit diesem Phänomen setzt sich Bildungsforscher Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani auseinander. „Bildung gegen Spaltung“ lautet auch das Motto des Gewerkschaftstages 2017 der GEW NRW in Duisburg, bei dem der Experte zu Gast sein wird. Im Interview erklärt er, wie Schule heute sein muss, damit jedes Kind aufsteigen kann.

  • Interview: Jessica Küppers
  • Funktion: Redakteurin im NDS Verlag
Min.
GEW NRW: Im Ruhrgebiet wird die Kluft zwischen Arm und Reich geografisch sehr anschaulich – durch die A40. Südlich der Autobahn wohnen meist gebildete, gut situierte Familien. Nördlich wohnen jene, die schlechter ausgebildet sind und weniger Geld zur Verfügung haben. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani: Dass es sich um ein ziemlich symmetrisches soziales Süd-Nord-Gefälle handelt, hat mit der spezifischen Geschichte des Ruhrgebiets zu tun. Aber die Konzentration von Armut sowie die Konzentration von Reichtum können wir in allen Städten erkennen. Dieses Phänomen wird soziale Segregation genannt und ist das Ergebnis von sehr vielen einzelnen Entscheidungen, häufig auch von historisch gewachsenen Strukturen. Armutssegregation wird dabei immer sehr intensiv diskutiert und als Problem erkannt. Reichtumssegregation wird bestenfalls zur Kenntnis genommen. Dabei sind die Entscheidungen von einkommensstarken Personen entscheidend für Segregationsprozesse.

Je wohlhabender eine Person oder ein Haushalt ist, desto freier ist die Wohnortwahl. Und interessanterweise führt diese Freiheit dazu, dass die Wohlhabendsten sich sehr einheitlich verhalten: Sie suchen ihresgleichen. Den ärmsten Menschen bleibt in der Regel nichts anderes übrig, als dort zu wohnen, wo es die günstigsten Mietpreise gibt – und die sind dort günstig, wo die meisten nicht wohnen wollen. Sie finden notgedrungen ihresgleichen, es handelt sich nicht um eine wirkliche Wahlfreiheit. So entsteht eine räumliche Konzentration von Ober- und Unterschicht, wobei die Oberschicht deutlich konzentrierter unter sich bleibt. Am wenigsten voraussehbar sind Entscheidungen der sozialstrukturellen Mitte.

Es geht im Übrigen nicht um Schuldzuweisungen. Diese Prozesse verlaufen zum Teil ohne böse Absicht. Aber mir ist schon wichtig hervorzuheben, dass nicht die ärmeren Menschen Segregation erzeugen, sondern eher die Wohlhabenden.

Sie sind am Rande des Ruhrgebiets groß geworden und haben den Aufstieg durch Bildung mitbekommen. Wie haben Sie diesen Prozess erlebt?

Ich selbst bin kein Aufsteiger, sondern sehr privilegiert aufgewachsen. Aber durch viele biografische Zufälle hatte ich seit meiner Kindheit viele intensive Kontakte mit Kindern und Familien, die man als arm bezeichnen muss. Freunde, die in vieler Hinsicht talentierter und engagierter waren als ich, aber an unterschiedlichen Stellen gescheitert sind. Um es soziologisch zu formulieren: Ich habe den Status meiner Eltern lediglich reproduziert. Das war einfach, gemessen an dem, was in Armut aufwachsende Kinder leisten müssen, um auf die gleiche Position zu kommen.

Was macht es so schwierig aufzusteigen? Wie schafft ein armes Kind aus einem Problemviertel den Aufstieg?

Das ist eine dauerhafte Herausforderung voller emotionaler Krisen und Konflikte. Der Aufstieg durch Bildung hat in einer Langzeitperspektive zur Folge, dass sich der Mensch grundlegend verändert, was auf der einen Seite Identitätsprobleme, Unsicherheitsgefühle und Verlusterlebnisse mit sich bringt. Zudem kommt es im Verhältnis zur Herkunftsfamilie und dem Milieu zu einem Distanzierungsprozess, der bis zur Entfremdung führen kann.

Aufstieg wird allgemein als mühevoll und durchweg positiv begriffen. Mühevoll ist er, aber aus der Erlebensperspektive von Aufsteiger*innen ist er auch ambivalent, nicht nur positiv, zeitweise sogar eher negativ. Vieles von dem, was in der Kindheit und Jugend wertvoll war, wird im Aufstiegsprozess entwertet. Viele soziale Beziehungen können nicht gehalten werden. Während des Aufstiegs fühlt man, dass man etwas verliert, ohne sich sicher sein zu können, ob man etwas gewinnt, ob man den Aufstieg wirklich schafft und sich „oben“ etabliert.

Auch unabhängig von Migration lässt sich der Aufstieg aus benachteiligten Milieus auf diese Weise beschreiben. Heranwachsende aus Migrant*innenfamilien haben lediglich andere Voraussetzungen: Einerseits sind sie aufstiegsorientierter, was förderlich ist. Andererseits sind sie mit besonders ausgeprägten Loyalitätserwartungen aus ihrem Herkunftsmilieu konfrontiert, die – wie gesagt – zumindest zum Teil enttäuscht werden. Familien ohne Migrationshintergrund sind hingegen weniger erfolgsorientiert und haben auch weniger Loyalitätserwartungen. Das sind sehr unterschiedliche Voraussetzungen, die zu sehr unterschiedlichen, aber ähnlich komplexen Herausforderungen führen.

Was müsste Schule leisten, um die Ausgangsbedingungen auszugleichen und möglichst vielen Kindern den Aufstieg durch Bildung zu ermöglichen?

Wenn ich jetzt sage, dass individuelle Förderung und ein Ganztagsschulprogramm dafür die beiden zentralen Aspekte sind, könnte man meinen: „Das machen wir schon“. Ich meine aber, dass das fast keine Schule in einer Form macht, die das Thema Armut wirklich in den Mittelpunkt rückt. Ich rede nicht von verschiedenen Lerntypen, von diversifierten Arbeitsblättern oder Hausaufgabenbetreuung – all das ist sinnvoll, hat aber mit dem Ausgleich von Armut noch nichts zu tun.

Nehmen wir die individuelle Förderung: Wer Kinder in prekären Lebensverhältnissen individuell fördern will, muss Armut verstehen. Sie erzeugt eine soziale Mentalität, ein Denk- und Handlungsmuster, einen Habitus. Kluge Kinder, die arm sind, denken und handeln kurzfristig, praktisch und unsicherheitsvermeidend. Das ist der Zwang der strukturellen Knappheit, ähnlich wie bei einem Insolvenzverwalter: Auch er muss kurzfristig eine praktische Lösung finden, die sicher sein muss, weil die Situation der Insolvenz dieses und kein anderes Verhalten erzwingt. Wenn Kinder dauerhaft unter struktureller oder extremer Knappheit aufwachsen, dann etabliert sich dieses Muster und lässt sich nur noch mit viel Mühe aufbrechen. Diese Kinder müssten deshalb systematisch dort abgeholt werden, mit dem Ziel auch andere Denkmuster zu erlernen: Langzeitorientierung, die Fähigkeit der Abstraktion und das Denken in Alternativen. All das sind übrigens Denkmuster, die wohlhabend aufwachsende Kinder aufgrund ihrer Sozialisationsbedingungen mitbringen. Es geht also um grundlegende Ziele, um Bildung im engeren Sinne und nicht lediglich darum, das Lernen zu optimieren.

Das ganze Interview mit Bildungsforscher Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani zum Gewerkschaftstag 2017 ist in der nds 11/12-2017 zu lesen.