lautstark. 19.04.2024

Kita bis Hochschule: rassismuskritische Bildungsarbeit

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Nicht auf den großen Wurf der Politik warten!

Mit dem Erstarken der AfD und der zunehmenden Anzahl antisemitischer Attacken rückt die pädagogische Arbeit gegen Rassismus vielleicht mehr denn je in den Fokus. Hat die rassismuskritische Bildungsarbeit ihren Auftrag verfehlt? Nein, sagt der Bildungs- und Rassismusforscher Professor Dr. Karim Fereidooni. Denn die Ursachen der aktuellen Entwicklung seien an anderer Stelle zu finden.

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  • Ausgabe: lautstark. 02/2024 | Wir gegen Rechts
  • im Interview: Prof. Dr. Karim Fereidooni
  • Funktion: Professor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum
  • Interview von: Anne Petersohn
  • Funktion: freie Journalistin
Min.
Karim Fereidooni ist Professor für Didaktik dersozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört Rassismuskritik in pädagogischen Institutionen.

Herr Fereidooni, nach so vielen Jahren rassismuskritischer Bildungsarbeit hat unsere Gesellschaft noch immer ein Problem mit rechten und rechtsextremen Haltungen. Was ist schiefgelaufen?

Karim Fereidooni: Meiner Meinung nach ist nichts schiefgelaufen. Deutschland ist im Jahr 2024 so rassismuskritisch wie noch nie in der bundesdeutschen Geschichte. Sehr viele Menschen gehen gegen Rassismus auf die Straße. Wir erleben die größten Demonstrationen seit 1989. Gleichzeitig sehen wir eine kleine, aber laute Minderheit, die versucht, Rassismus salonfähig zu machen. Das sind gegenläufige Tendenzen, die einmal mehr verdeutlichen, dass wir uns jeden Tag für eine plurale Demokratie einsetzen müssen.

Wie steht es dann aus Ihrer Sicht um die rassismuskritische Bildung in Deutschland?

Karim Fereidooni: Das größte Problem ist, dass Menschen in Deutschland nicht flächendeckend mit ihr in Kontakt kommen. Stattdessen nehme ich wahr, dass Rassismuskritik, wie auch Rassismus selbst, vielerorts tabuisiert wird. Viele Lehrkräfte sagen: „Bei uns an der Schule gibt es keinen Rassismus.“ Ebenso kenne ich nur sehr wenige Professor*innen, die Rassismuskritik in der Lehrkräftebildung betreiben. Hier fehlt eine ehrliche Auseinandersetzung.

Welche Rolle spielt Rassismus grundsätzlich mit Blick auf die aktuellen politischen Entwicklungen?

Karim Fereidooni: Eine große. Rassismus ist sehr funktional: Er wirkt, weil er einfache Antworten auf komplexe Fragen liefert. Eine Studie aus Thüringen zeigt, dass beispielsweise der Zusammenhalt der AfD-Wähler*innen sehr stark durch die Zustimmung zu rassistischen Aussagen entsteht. Rassismus spielt also bei der Wahl für die AfD tatsächlich eine große Rolle. Wenn dann Politiker*innen der bürgerlichen Mitte den rassistischen Duktus übernehmen, müssen wir uns nicht wundern, dass Rassismus salonfähig wird in unserer Gesellschaft.

Wie sehen Sie insgesamt die Rolle der bürgerlichen Parteien, wenn es um das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte geht?

Karim Fereidooni: Rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien sind sicher auch deshalb führend, weil die anderen Parteien gepennt haben: Sie kleben immer noch Flyer an Hauswände, statt auf Social Media aktiv zu sein. Zugleich glaube ich nicht, dass Konkurrenzparteien der AfD Stimmen wegschnappen können, indem sie sie rechts überholen.

Studien zeigen, dass diese Rechnung nicht aufgeht und spätestens nach der zweiten Legislaturperiode das Original gewählt wird. Politiker*innen sollten deshalb schauen, dass der Laden läuft und Probleme gelöst werden – dann ist schon viel gewonnen. Und dann werden sich auch die sogenannten Protestwähler*innen nicht mehr für die AfD entscheiden.

Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die rassismuskritische Bildungsarbeit? Und wie kann sie sich in Zukunft von der Kita bis zur Hochschule weiterentwickeln?

Karim Fereidooni: Schule ist ein Ort, an dem alle Menschen zeitweise zusammenkommen. Hier hat die Gesellschaft die Chance, die normative Ebene des Grundgesetzes mit Leben zu füllen. Und wir können sogar schon viel früher ansetzen: Wir wissen aus vielen Studien, dass bereits drei- bis vierjährige Kinder Rassismus reproduzieren, um ihren sozialen Alltag zu strukturieren.

Hier gibt es schon für die Grundschule sehr gutes Material, beispielsweise rassismuskritische und antisemitismuskritische Kinderbücher. Gerade Eltern oder Bezugspersonen weiß-deutscher Kinder sollten zudem so früh wie möglich mit ihren Kindern über Rassismus sprechen – damit sie erlernen, dass die Hautfarbe von Menschen eine Rolle für das Fortkommen in unserer Gesellschaft spielt. Doch dieses sensible Sprechen über unterschiedliche Lebensrealitäten passiert leider viel zu selten.

Sie haben schon angesprochen, dass auch viele Schulen ein Problem mit der Anerkennung von Rassismus innerhalb ihres Systems haben. Wie können sie sich dem Thema annähern?

Karim Fereidooni: Manchmal hilft der Blick von außen – wenn etwa bei pädagogischen Tagen Expert*innen eingeladen werden, die von Studien zum Thema Rassismus berichten: Wo kommt er vor im Klassenraum oder im Lehrer*innenzimmer? Eine Möglichkeit kann auch sein, eine kollegiale Fallberatung im rassismuskritischen Sinne durchzuführen oder Schüler*innen zuzuhören, die andere Erfahrungen machen als weiß-deutsche Lehrkräfte. Das Prinzip des lebenslangen Lernens gilt auch für Lehrer*innen! 

Wenn zwei oder drei Lehrer*innen sich aufmachen, können sie die Schule von innen heraus verändern. Sie können zum Beispiel eine AG Rassismuskritik aufbauen, gemeinsam mit Schüler*innen Unterrichtsmaterialien prüfen und schauen, wo schwarze, muslimische oder jüdische Menschen vorkommen. Und dann können sie eigene, bessere Materialien entwickeln. Letztlich geht es nicht darum, auf den großen Wurf der Politik zu warten. Wir können in den Bildungseinrichtungen und zu Hause im Kleinen schon viel bewirken.

Welche strukturellen Veränderungen sollten darüber hinaus umgesetzt werden?

Karim Fereidooni: Ich fordere, wie viele andere Bildungsforscher*innen auch, ein Sondervermögen für Bildung. Nur so können Kitas, Schulen und Hochschulen besser ausgestattet werden und es entstehen zum Beispiel Freiräume für Lehrkräfte wie auch für Schüler*innen. Projekte zur Demokratieförderung dürfen nicht finanziell reduziert werden – im Gegenteil: Viele wichtige Vereine und Initiativen brauchen die finanzielle Förderung, um für eine plurale Gesellschaft einzustehen. Abgesehen vom Geld brauchen wir eine Gesamtstrategie der Bundesregierung gegen Rassismus, damit nicht nur Einzelpersonen irgendetwas unternehmen. Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsdefizit. Es gibt viele gute Studien mit wertvollen Ergebnissen – doch häufig scheut sich die Politik davor, sie auch umzusetzen.

Sie haben die Weiterbildung von Lehrkräften angesprochen. Wie sollten Veränderungen, auch in der Ausbildung, konkret aussehen?

Karim Fereidooni: Wir müssen dafür sorgen, dass Rassismuskritik angehenden Lehrkräften bereits in der ersten und zweiten Phase der Lehrer*innenbildung als ganz normale Professionskompetenz beigebracht wird – und zwar flächendeckend und verpflichtend, damit sie es an die nachfolgenden Generationen weitergeben können. Ich mache das anhand eines Beispiels deutlich: In NRW sind wir als Fachdidaktiker*innen angehalten, inklusionsspezifische Anteile zu vermitteln.

Ich wünsche mir von der NRW-Landesregierung eine Veränderung des Lehrerausbildungsgesetzes – damit wir als Lehrende gezwungen werden, stärker über Inhalte wie Demokratiefeindlichkeit, Menschenfeindlichkeit, Rassismus oder Antisemitismus zu sprechen. Vor allem aber müssen wir den jungen Lehrkräften beibringen, wie sie Unterricht zu diesen Themen machen.

Mal angenommen, es würde gelingen, all diese Forderungen umzusetzen: Welche positiven Folgen gäbe es?

Karim Fereidooni: Wenn wir rassismuskritische Bildungsarbeit flächendeckend umsetzen, dann hat niemand Angst, in die Schule, die Kita oder die Uni zu gehen. Dann fühlen sich alle wertgeschätzt, und alle können entsprechend ihren Potenzialen gefördert werden. 

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