Bildungspolitik 11.04.2024

Sozialindex: Neuberechnung löst Probleme nur auf Papier

BelastungBildungsfinanzierungChancengleichheit
  • Autor*in: Dr. Kenneth Rösen
  • Funktion: Experte der GEW NRW für Bildungspolitik

Landesregierung muss nachbessern und mehr Stellen schaffen

Mit dem Sozialindex wird die soziale Belastung an Schulen eingestuft. Eine Neuberechnung legt jetzt offen: Viel mehr Schulen in NRW zählen zu den höheren Indexstufen und sind somit sozial hoch belastet. Sie sollen gezielt Unterstützung erhalten. Wir geben Einblick in die aktualisierte Berechnungsmethodik und fordern Nachbesserungen.

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Verbesserung in methodischer Hinsicht 

Im Herbst 2023 hat die Landesregierung eine Evaluation und Neuberechnung des Sozialindex vorgestellt, die vor allem zwei zentrale Verbesserungen vorsieht: Die Schulen in NRW werden ab dem Schuljahr 2024/2025 nicht mehr in neun gleichgroße Stufen eingeordnet. Stattdessen wird ein Hybridmodell angewendet:  Fünf Prozent der Schulen mit den höchsten Indexwerten werden pauschal in Stufe 9 eingruppiert. Die restlichen Schulen werden auf die acht gleichgroßen Stufen verteilt. Das Hybridmodell war bereits bei der Einführung die präferierte Lösung der GEW NRW. Die jetzt durchgeführte Evaluation zeigt auch deutlich wieso: Anstatt vorher 26 Schulen, die in den Stufen 8 und 9 eingruppiert waren, sind es nun 406 Schulen. Anstelle von 310 Schulen, die überhaupt Förderung bekommen, sind es nun 941 Schulen. Das bedeutet konkret, dass nun auf dem Papier mehr Schulen vom Sozialindex profitieren. Dass sich die tatsächlichen Verhältnisse an den Schulen verschlechtert haben, heißt das aber nicht. Vielmehr wird die Realität vor Ort nun besser abgebildet. 

Schulformen sind besser vergleichbar

Eine zweite wichtige Änderung besteht darin, dass bei Schulen mit gymnasialer Oberstufe künftig ausschließlich die Schüler*innen der Sekundarstufe I für die Erstellung des Index herangezogen werden. Das ist insbesondere deshalb sinnvoll, weil sich die soziale Zusammensetzung bei Schüler*innen in der gymnasialen Oberstufe erheblich von der in der Sekundarstufe I unterscheiden kann. Mit dieser Änderung sind die Schulformen nun besser zu vergleichen. 

Schon gewusst?

Sozialindex

Der schulscharfe Sozialindex ist ein Instrument der gerechten Ressourcensteuerung. Er bestimmt, ob eine Schule besonderen Unterstützungsbedarf hat. Bei der Zuordnung spielen vier Indikatoren eine Rolle: 

  • die Quote der Schüler*innen, deren Familien Sozialhilfe beanspruchen
  • der Anteil der Schüler*innen, in deren Familien nicht Deutsch gesprochen wird 
  • der Anteil der Schüler*innen, die aus dem Ausland zugezogen sind
  • Anteil an Kinder mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Lernen, emotionale und soziale Entwicklung oder Sprache


Ziel des Sozialindex ist es, besonders sozial belastete Schulen mit mehr finanzielle, sachliche und personelle Ressourcen zu unterstützen – ganz nach dem Motto: Ungleiches ungleich behandeln.

Konkrete Kritik an der Umsetzung

So gut die geplante Ausführung des Sozialindex auf dem Papier grundsätzlich ist, so groß dürfen die Zweifel sein, dass sich im schulischen Alltag viel ändern wird. Denn ein schulscharfer Sozialindex, der Schulen in einem schwierigeren sozialen Umfeld zusätzlich unterstützen und gegen Bildungsungerechtigkeit wirken soll, muss diesen Schulen zusätzliche Ressourcen zur Verfügung stellen. Deshalb ist das bisherige Vorgehen des Ministeriums, 70 Prozent der Sozialindex-Stellen auf die Ebene der Bezirksregierung zu verteilen sowie Stellen für den Sozialindex innerhalb des Haushalts kostenneutral umzuverteilen, grundfalsch. Ein schulscharfer Sozialindex steuert Ressourcen gezielt an Schulen mit Mehrbedarfen – eben schulscharf und nicht auf die Ebene der Bezirksregierung. Die Verteilung auf die Ebene der Bezirksregierung hebelt das Instrument des Sozialindex aus, weil es nicht dem Motto Ungleiches ungleich behandeln folgt. Wenn man schon ein Instrument zur sozialindizierten Ressourcensteuerung hat, dann sollte man es auch vollumfänglich nutzen. Diese Praxis der Umverteilung ist nichts anderes als ein Verschieben innerhalb des Systems und stopft eine Lücke, indem eine andere aufgerissen wird. Gleichermaßen geht sie zu Lasten der Kolleg*innen, die die Umverteilung mit Mehrarbeit bezahlen müssen. Auch den Schüler*innen wird eine individuelle Fördermaßnahme genommen. 

Schlechte Haushaltsplanung

Auch wird sich ein Problem im Hinblick auf den Haushalt auftun. Schon vor der Evaluation des Sozialindex waren nur 340 Lehrer*innenstellen für den Sozialindex ausgewiesen – was schon bei 310 förderberechtigten Schulen marginal ist. Durch die Evaluation wirken diese 340 Stellen mickrig, weil knapp 1000 Schulen Unterstützungsbedarf aufweisen. Kalkuliert man die ungefähren Bedarfe der Schulformen, was aufgrund der Anzahl der Schulen je Schulform in den einzelnen Indexstufen möglich ist, so reichen die im Haushalt eingestellten Stellen gerade einmal dafür aus, die Bedarfe der Schulform Realschule abzudecken. Will man allerdings allen Schulen entsprechend ihrer Stufe zusätzliches Personal zuweisen, wird man wohl rund 2.700 zusätzliche Stellen brauchen - ungefähr das Achtfache der bisherigen Stellen.

Regierung muss nachbessern 

Für das kommende Schuljahr wäre das nur über einen Nachtragshaushalt zu regeln, was politisch wohl kaum gewollt ist. Für die anstehenden Haushaltsverhandlungen ab dem Sommer heißt das allerdings, dass das Ministerium beim Sozialindex ordentlich nachlegen muss, will es den Sozialindex nicht aushungern lassen. So ehrlich muss sich Politik machen: Ein Instrument der Ressourcensteuerung ist nur so gut, wie es über Ressourcen zur Verteilung verfügt. Das ist der Auftrag an das Ministerium, den Personalbedarf nach dem Sozialindex neu festzulegen. Dass die Stellen in Zeiten des Lehrkräftemangels wahrscheinlich nicht besetzt werden können, sollte das Ministerium nicht daran hindern, den Sozialindex vernünftig auszustatten und dann die Hausaufgaben in puncto Lehrkräftemangel zu machen. 

Zum Hintergrund

Die NRW-Landesregierung führte im Schuljahr 2021/2022 den schulscharfen Sozialindex ein und erfüllte somit eine langjährige GEW-Forderung. Allerdings gab es zwei große Kritikpunkte: Zum einen schien die Verteilung der Schulen auf die neun Indexstufen nicht der Realität der Schulen zu entsprechen, denn gerade einmal 26 Schulen waren in den beiden höchsten Stufen 8 und 9 eingeteilt. So wies die Politik landesweit nur 310 Schulen zusätzliche Mittel zu. Die „Linkssteilheit“ der Verteilung, d.h. die hohe Zuteilung der Schulen zu niedrigen Indexstufen lag an der metrischen Verteilung der Schulen auf die Stufen. Das bedeutete, dass die Indexstufen gleichgroß in Hinblick auf die erreichte Belastungskennziffer konstruiert waren – ein Punkt, den die GEW damals bereits kritisierte und selbst vom Gutachter bemängelt wurde. Zum anderen kritisierten wir, dass die Regierung kaum Ressourcen für den Sozialindex bereitstellte. Lediglich 250 zusätzliche Stellen wurden etwa im Haushaltsjahr 2022 für die Verteilung nach dem Sozialindex bereitgestellt. Wir kommentierte damals: „Ein ernstgemeinter schulscharfer Sozialindex und ein ernst gemeintes Interesse daran, gerade Schüler*innen mit einem besonderen Unterstützungsbedarf zusätzliche Unterstützung zukommen zu lassen und etwas grundsätzlich gegen die vorherrschende Bildungsungerechtigkeit in NRW zu tun, sehen anders aus.“