Bildungspolitik 10.02.2022

Regelstudienzeit verlängert – allein das reicht nicht!

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Mehr Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von Studierenden in der Corona-Pandemie müssen folgen

Die Verlängerung der Regelstudienzeit in NRW allein hilft nur einem Bruchteil der Studierenden in der Corona-Pandemie. Lösungen für die vielfältigen Nöte müssen Landes- und Bundespolitik jetzt gemeinsam auf den Weg bringen – ohne über die Situation Studierender hinwegzugehen!

  • Autor*in: Julia Schnäbelin
  • Funktion: Mitglied im Landesausschuss der Studierenden der GEW NRW
Min.

Regelstudienzeit, die [ˈreːɡlʃtuːd ̩ iəntsa ̯ ɪ̯t]
– für ein bestimmtes Studium vorgeschriebene, eine bestimmte Anzahl von Semestern umfassende Zeit.

„Wir geben den Studierenden Klarheit und Planungssicherheit.“ Mit dieser Aussage bekräftigte NRW-Wissenschaftsministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen im Januar 2022 ihre Entscheidung, die individuelle Regelstudienzeit in NRW um ein weiteres Semester zu erhöhen. Dies ist somit die vierte Verlängerung in Folge für nordrheinwestfälische Studierende. Das Ziel ist löblich: Die gewerkschaftliche Minimalforderung, das aktuelle Semester als „Null-Semester“ zu zählen und nicht auf die Regelstudienzeit anzurechnen, ist erreicht. Zu großen Freudensprüngen führt die Entscheidung allerdings nicht unter den jungen Menschen, denn viele Probleme scheinen völlig aus dem Blick der Politik geraten zu sein.

Bündnis Solidarsemester setzt sich seit Beginn der Corona-Pandemie für Studierende ein

Rückblick: Bereits im ersten Semester, das vollumfänglich von der Pandemie betroffen war, bildete sich das Bündnis Solidarsemester. Eine der vielen Forderungen: das aktuelle Semester als „Null-Semester“ zu zählen und nicht auf die Regelstudienzeit anzurechnen. Dafür gab es gute Gründe, wie zum Beispiel die daraus resultierende Verlängerung des BAFöG-Anspruchs. Die Verlängerung der Regelstudienzeit allein löst aber die Nöte und Probleme für viele Studierende nicht; insbesondere dann, wenn sie weniger auf den finanziellen Rückhalt vermögender Eltern setzen können.

Auch über die finanzielle Situation hinweg, sind die Auswirkungen der Pandemie gravierend. Dass das Studium durch die andauernde Pandemiesituation stark beeinträchtigt wird, lässt sich auf unterschiedlichsten Ebenen feststellen. Die Universitäten und Hochschulen gelten als Begegnungsstätte, an der gemeinsam geforscht, gelehrt und gelernt wird. Erst der persönliche Austausch führt häufig zum Umdenken, Neudenken und Weiterdenken. Das geschieht nicht nur bewusst intendiert in Seminaren, sondern auch im alltäglichen Austausch beim gemeinsamen Essen in der Mensa oder dem anschließenden Kaffee in der Sonne. Durch Schließungen und dem rein digitalen Austausch ist von der Begegnungsstätte Uni nicht mehr viel übriggeblieben.

In der Pandemie erkrankte Studierende brauchen Unterstützung

Noch viel sichtbarer wurden die Folgen der Isolation in den Zahlen der psychisch erkrankten Studierenden. Die Anfragen an psychologische Beratungsstellen stiegen seit dem ersten Lockdown immens in die Höhe. Viele Studierende, das zeigten Umfragen unter anderem an der Bergischen Universität Wuppertal, leiden deutlich häufiger unter Motivationslosigkeit, Kopfschmerzen und depressiven Verstimmungen. Diese Befunde sind ernst zu nehmen und erfordern politisches Handeln: nicht nur der Landespolitik, sondern auch der Bundespolitik. 

Nur 11 Prozent der Studierenden profitieren von der Verlängerung der Regelstudienzeit

Doch was kann Politik tun? Die Regelstudienzeitverlängerung nimmt auf den ersten Blick zeitlichen Druck heraus. Doch schaut man sich an, wem das konkret hilft, ist das nur ein Bruchteil der Studierenden. Lediglich 11 Prozent der Studierenden beziehen BAFöG und haben somit die Möglichkeit, unter Umständen länger mit staatlicher Unterstützung zu studieren. Dass so wenige ihr Studium mit Hilfe des BAFöG bestreiten können, ist ohnehin ein Unding: Es befördert soziale Segregation im Bildungssystem entlang der finanziellen Möglichkeiten. Hinzukommt, dass das BAFöG als einzige Einnahmequelle häufig nicht reicht.

Studierende in NRW kämpfen mit massiven finanziellen Schwierigkeiten in der Corona-Pandemie

Aktuell viel entscheidender ist der Fakt, dass andere Höchstgrenzen nicht angehoben wurden – wie die Berechtigung Kindergeld zu bekommen und in der Familienversicherung beziehungsweise studentischen Versicherung bleiben zu dürfen. Starke Finanzielle Einbußen ergeben sich dadurch mit Erreichen eines bestimmten Alters automatisch und nicht selten im dreistelligen Bereich. Das überfordert viele Studierende finanziell, deren Einkommensmöglichkeiten durch Lockdowns und andere wichtige Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ohnehin beschnitten sind. 

Druck auf Studierende wächst – Politik muss ihre Nöte ernst nehmen!

All das führt dazu, dass der Leistungsdruck durch die pandemische Situation und deren Umstände erheblich gestiegen ist: Der Druck, doch irgendwie möglichst schnell das Studium zu absolvieren oder es gar abbrechen zu müssen, ist immens. Nicht selten führt er dazu, dass Studierende wieder bei ihren Eltern einziehen müssen, weil ein eigenes WG-Zimmer finanziell nicht zu stemmen ist.

Solcher Druck, solche Erfahrungen und Versagensängste machen krank – und sie treffen besonders Arbeiter*innenkinder und andere mit weniger finanzkräftigem Elternhaus. Das ist ein bildungspolitischer Skandal. Die Verlängerung der Regelstudienzeitverlängerung als Entlastung reicht eben nicht aus, um für Klarheit und Planungssicherheit zu sorgen. Studierende müssen ernst genommen werden, ihre Nöte müssen Gehör finden. Die politischen Akteur*innen auf Landes- wie Bundesebene sind dringend aufgefordert, zeitnah die Regelungen nachzuschärfen, damit ein erfolgreiches Studium nicht zum Lottogewinn wird.