Bildungspolitik 19.11.2018

Bildungsauftrag im digitalen Wandel

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GEW NRW: Bildungsauftrag im digitalen Wandel

Wissensarbeit wird immer wichtiger im Prozess der Digitalisierung

Wir stecken mitten in der vierten industriellen Revolution und sprechen von Arbeit 4.0. Der Grad der Komplexität in diesem Prozess ist derart hoch, dass Teile des Systems und die*der einzelne Beschäftigte nur schwer mithalten können. Wie meistern Bildung und Schule die Herausforderungen?

  • Interview: Sherin Krüger
  • Funktion: Redakteurin im NDS Verlag
Min.

Beim Digitalisierungskongress von GEW NRW, DGB NRW und Hans-Böckler-Stiftung (HBS) erläuterte Dr. Marc Schietinger, Referatsleiter Strukturwandel – Innovation und Beschäftigung bei der HBS, die Kernelemente von Digitalisierung und Veränderungen in Industriebetrieben, in der Arbeitsorganisation und in Arbeitsabläufen. Im Interview beschreibt der Soziologe die damit zusammenhängenden Herausforderungen für das Bildungssystem und seine Beschäftigten sowie für Gewerkschaften.

Den Gewerkschaften wird kein Einfluss auf die digitale Entwicklung zugeschrieben, zitieren Sie eine Schlussfolgerung aus den Medien. Was muss Gewerkschaft also ändern, um den Prozess stärker mitgestalten zu können?

Dr. Marc Schietinger: Auch, wenn Gewerkschaften in der öffentlichen Wahrnehmung keine besondere Rolle in Sachen digitaler Wandel spielen, heißt nicht, dass sie passiv sind oder die ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente der Mitgestaltung nicht nutzen. Es gibt viele gute Beispiele und Projekte, wie Betriebsräte den digitalen Wandel in ihren Unternehmen proaktiv einfordern oder mitgestalten und hierbei von ihren Gewerkschaften unterstützt werden.

Gewerkschaften sind aktiv in politische Debatten involviert und nehmen Einfluss darauf. Zum Beispiel waren Gewerkschaften in den Prozess zum Weißbuch „Arbeiten 4.0“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales eingebunden. Oder waren vertreten durch die Hans-Böckler-Stiftung und den DGB, die die Kommission „Arbeit der Zukunft“ ins Leben gerufen haben. Sicherlich könnten sich Gewerkschaften und vor allem Betriebs- und Personalräte an einigen Ecken noch stärker engagieren, aber das beschriebene Problem ist eher eines der Medienöffentlichkeit: Die Beschreibung des Einflusses und der Wirkung von kollektiven Akteuren ist komplex und kleinteilig und daher wenig geeignet für große Schlagzeilen. Das wird dann gerne mal ausgeblendet, wenn das „disruptive“ oder „revolutionäre“ einer neuen Technologie beschrieben wird.

Was kann Gewerkschaft speziell für die Beschäftigten leisten im komplexen Prozess der Digitalisierung?

Gewerkschaften und Betriebsräte sind die Schutzmacht der Beschäftigten. Sie müssen an vielen Stellen wirken und Einfluss nehmen. Das fängt damit an, dass sie das Phänomen der Digitalisierung erfassen und verstehen müssen: Was passiert da eigentlich? Wo finden welche Veränderung statt? Welche Beschäftigte sind betroffen? Was ändert sich in den Arbeitsabläufen? Wie kann man auf die Veränderungsprozesse reagieren? Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden? Und vieles mehr. Hier sind auch wir als Hans-Böckler-Stiftung aufgerufen, unseren Teil dazu beizutragen. Dann müssen sich Gewerkschaften in die gesellschaftspolitische Debatte einbringen und dafür sorgen, dass die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Beschäftigten bei den politischen Akteuren überhaupt wahrgenommen beziehungsweise erkannt werden.

Und ganz praktisch müssen sie dafür sorgen, dass der digitale Wandel mit möglichst wenigen Beschäftigungseinbußen verbunden ist und die neuen Technologien nicht zu schlechteren Arbeitsbedingungen führen. Sondern im Gegenteil: Sie müssen im Sinne der Beschäftigten genutzt werden. Das ist sehr komplex und muss durch Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen abgesichert werden. Dabei passiert schon ganz viel und Gewerkschaften greifen konkrete Fragestellungen auf wie: Wie kann Weiterbildung und Qualifizierung mehr als bislang gefördert werden? Wie können Beschäftigte und Betriebsräte frühzeitig an den Prozessen beteiligt werden? Wie können wir einen ausreichenden Datenschutz sicherstellen? Was passiert mit Beschäftigen, deren Arbeitsplätze durch Digitalisierungsprozesse wegfallen? Wie müssen die Arbeitszeiten geregelt sein?

Viele Kernelemente der Digitalisierung haben großen Einfluss auf Branchen wie Beschaffung, Produktion oder Vertrieb. Welche Kernherausforderungen sind daraus für den Bereich Bildung abzuleiten? Welche Hürden ergeben sich auf der Ebene der Schulen?

Es ist bei Expert*innen relativ unbestritten, dass der digitale Wandel mit einer Höherqualifizierung der Beschäftigten verbunden sein wird. Die Art von Arbeit, die mit dem Begriff „Wissensarbeit“ beschrieben wird, wird noch bedeutender. Das Bildungssystem muss sich hierauf vorbereiten. Es sollte aus meiner Sicht weniger darum gehen, ob Menschen mit Computern oder sogenannten Smart Devices technisch umgehen können – wobei die junge Generation hierzu flächendeckend in der Lage ist –, sondern vielmehr um andere Kompetenzen. Dazu zählt: Wie erarbeite ich mir Wissen aus den unendlich vorhandenen Informationen aus dem World Wide Web?

Aber auch Kommunikation allgemein, Fremdsprachen, Abstraktionsvermögen und dergleichen werden wichtiger. Dabei geht es eigentlich um den klassischen Bildungsauftrag. Sicher müssen Schulen mit digitalen Technologien ausgestattet werden, denn der derzeitige Zustand ist ein Skandal. Allerdings reicht das Vorhandensein von IT nicht aus, vielmehr müssen die richtigen pädagogischen Konzepte und passenden Lerninhalte zu diesen Technologien konzipiert und eingeführt werden.

Der digitale Wandel kostet Arbeitsplätze und bald brauchen wir kaum noch menschliche Arbeitskraft. Annahmen wie diese sind populär. Was können Sie entgegnen? Wie sieht die Prognose für den Lehrberuf aus?

Die Prognosen beruhen häufig auf Annahmen und einer Technikgläubigkeit, die bei näherer Betrachtung und aufgrund der bisherigen Erfahrungen als unrealistisch einzuschätzen sind. Studien, die hier präziser arbeiten, kommen in aller Regel auf sehr viel geringere Effekte, was den Ersatz von menschlicher Arbeitskraft durch Roboter und IT betrifft. Nichts desto trotz zeichnet sich ein erheblicher Strukturwandel in der Arbeitswelt ab. Gerade Arbeitsplätze und Berufe im mittleren Qualifikationssegment, die durch Routinetätigkeiten – wie zum Beispiel Dateneingaben gekennzeichnet sind – werden nach und nach obsolet. Dieser Prozess – und das zeigen Forschungen – wird nicht von heute auf morgen passieren, sodass wir die Chance haben, in den kommenden Jahren Anpassungsprozesse im Sinne der Beschäftigten zu organisieren: Hier spielen dann die Themen Weiterbildung und (Nach-)Qualifizierung tragende Rollen. Voraussichtlich werden aber nicht alle Beschäftigte in den Unternehmen gehalten werden können. Struktur- und arbeitsmarktpolitische Instrumente werden dann wieder wichtiger.

Die Prognosen für den Lehrerberuf sehen übrigens gut aus: Der „Futuromat“ der Agentur für Arbeit stuft die Automatisierbarkeit des Berufs als „niedrig“ ein. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die meisten Berufe, die mit personenbezogenen Dienstleistungen zu tun haben, werden auf absehbare Zeit nicht von Robotern oder künstlicher Intelligenz ersetzt werden können.