lautstark. 02.08.2023

Mit Tarifvertrag klar im Vorteil

TarifrechtGehalt

Tarifbindung in Deutschland

Für Beschäftigte in Nordrhein-Westfalen ohne Tarifvertrag fällt aktuell jede Woche fast eine Stunde Mehrarbeit an – und zusätzlich sind die Entgelte um etwa neun Prozent niedriger. Mit anderen Worten: Sie leisten mehr Arbeit für weniger Geld. Den Zusammenhang zwischen Tarifbindung und Arbeitsbedingungen untersucht das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung regelmäßig für alle Bundesländer.

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  • Ausgabe: lautstark. 04/2023 | Tarifarbeit: Gemeinsam stark
  • Autor*in: Dr. Malte Lübker
  • Funktion: Wissenschaftler am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung
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Die Basis für die WSI-Studien sind Daten, die das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) jährlich in einer Umfrage unter gut 15.000 Betrieben erhebt. Wichtig dabei ist, dass Unterschiede, die sich durch andere Faktoren erklären lassen, bereits herausgerechnet sind. Der Vergleich bezieht sich also auf Betriebe mit und ohne Tarifvertrag, die einander ansonsten sehr ähnlich sind – zum Beispiel hinsichtlich ihrer Größe, der Branchenzugehörigkeit oder des Qualifikationsprofils der Beschäftigten.

Schönrechnerei: Orientierung an Tarifverträgen ersetzt formelle Bindung nicht

Tarifverträge haben für Beschäftigte klare Vorteile. Das zeigt sich nicht nur regelmäßig bei Sonderzahlungen wie dem Urlaubs- und Weihnachtsgeld, sondern auch bei der Grundvergütung und der Arbeitszeit. Der schleichende Rückgang der Tarifbindung bietet deshalb Anlass zur Sorge: Während im Jahr 2000 in Deutschland noch gut zwei Drittel (68 Prozent) der Beschäftigten in einem Betrieb mit Tarifvertrag arbeiteten, ist es heute nur noch etwa die Hälfte.

Laut IAB-Betriebspanel lag der Anteil zuletzt bei 52 Prozent (2021), der neuen Verdiensterhebung von Destatis zufolge waren es ein Jahr später sogar nur noch 49 Prozent. Frauen und Männer sind von dem Rückgang gleichermaßen betroffen. Und die Malaise hat NRW längst erfasst – auch wenn sich das Land selbst gerne als Heimat des sozial ausgewogenen, rheinischen Kapitalismus betrachtet. Die Tarifbindung lag nach den Daten von Destatis aus 2022 gerade einmal bei 51 Prozent.

Die Zahlen lassen sich schönrechnen, indem zu den tarifgebundenen Betrieben einfach jene hinzuaddiert werden, die angeben, sich an einem Tarifvertrag zu orientieren – was immer das heißen mag. Arbeitgeber wenden diesen Rechentrick gerne an und kommen dann zu der Behauptung, dass für drei Viertel der Beschäftigten „direkt oder indirekt der Tarif“ gilt.

Den Beschäftigten bringt eine unverbindliche Orientierung an einem Tarifvertrag wenig – das zeigt die WSI-Forschung, aber auch die von anderen Instituten. Peter Ellguth und Susanne Kohaut vom IAB fassen ihre Studienergebnisse wie folgt zusammen: „Wie sich zeigt, bleibt das bereinigte Lohnniveau in Orientiererbetrieben deutlich hinter dem in branchentarifgebundenen zurück. Die Orientierung an einem Branchentarif ist somit kein Ersatz für eine formelle Bindung.“

Erziehung und Unterricht: Ist dort die Welt noch in Ordnung?

Besser als in der Gesamtwirtschaft ist es um die Tarifbindung im Wirtschaftszweig Erziehung und Unterricht bestellt: Bundesweit liegt die Tarifbindung hier nach Angaben von Destatis bei 82 Prozent, in NRW sind es 81 Prozent – wobei jeweils fast ausnahmslos Flächentarifverträge gelten. Für die korrekte Interpretation der Zahlen müssen jedoch zwei Feinheiten der Statistik genauer angesehen werden:

Zum einen werden für die Verdiensterhebung nur privatwirtschaftliche Betriebe tatsächlich befragt, während die Angaben für den öffentlichen Sektor aus der Personalstatistik stammen. Hierbei unterstellt Destatis eine Tarifbindung von 100 Prozent. Das stimmt fast, aber eben nicht ganz. Zum anderen bezieht sich die Statistik streng genommen auf Beschäftigte in tarifgebundenen Betrieben.

Beamtete Lehrer*innen werden dabei einfach mitgezählt. Der Tarifabschluss wird zwar in der Regel auf sie übertragen, das Streikrecht – und damit die Möglichkeit, selbst für einen Tarifvertrag zu kämpfen – wird ihnen aber in Deutschland unter Verletzung der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) weiterhin vorenthalten.

So betrachtet tritt eine andere Aussage in den Vordergrund: Auch im Sektor Erziehung und Unterricht arbeitet inzwischen jede*r fünfte Beschäftigte außerhalb der Reichweite von Tarifverträgen. Beschäftigt sind diese Menschen bei privaten Anbietern, freigemeinnützigen Organisationen oder kirchlichen Trägern – wobei letztere sehr wohl Tarifverträge abschließen dürfen, meist aber auf dem kirchlichen Sonderarbeitsrecht beharren und es auch für verkündungsferne Bereiche nicht tun.

Oft stammt das Geld, das diese Angebote finanziert, trotzdem direkt oder indirekt aus öffentlichen Kassen. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) finanziert beispielsweise berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Integrationskurse und die Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe zahlen die frühkindliche Erziehung.

Beispiel Mecklenburg-Vorpommern: Land vergibt Fördermittel nur bei tarifnaher Bezahlung

Auch diese Bildungs- und Erziehungsangebote sind also nicht so staatsfern, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Die Politik muss sich deshalb entscheiden, ob sie durch das Unterschreiten von tariflichen Standards Kosten einsparen will – oder ob sie alle Beschäftigten in ihrem Einflussbereich würdig bezahlen möchte. Die Instrumente dafür gibt es. Mit dem Bundestariftreuegesetz, das derzeit erarbeitet wird, soll die Auftragsvergabe des Bundes an die Einhaltung von Tarifverträgen gebunden werden. Für die Beschäftigten bei den Bildungsträgern ist entscheidend, dass das Gesetz künftig auch für die Auftragsvergabe von BA, BAMF & Co. Anwendung findet, wo Milliarden an öffentlichen Geldern ausgegeben werden.

Viel öffentliches Geld wird auch in der Kinder- und Jugendhilfe bewegt. Auf ein interessantes Beispiel, wie sich dort die Weichen in Richtung Tariflöhne und Tarifbindung stellen lassen, ist das WSI in einer Studie zu Mecklenburg-Vorpommern gestoßen: Dort ist gesetzlich geregelt, dass Fördermittel des Landes und der Kommunen nur an Leistungsträger vergeben werden dürfen, die sich an tariflicher Bezahlung zumindest orientieren. In der Praxis hat das dazu geführt, dass die kommunalen Kostenträger Tariflöhne als wirtschaftlich anerkennen und refinanzieren. Um Kindertagesstätten und andere Einrichtungen in die Tarifbindung zu bringen, mussten sich die Beschäftigten trotzdem erst organisieren und in den Ausstand treten.

Vorteile der Tarifbindung für Arbeitgeber: Kalkulationsgrundlage, Fachkräftesicherung und Konfliktvermeidung 

Auch für die WSI-Studie zur Tarifbindung und Tarifflucht in NRW enthält Beispiele, wo Beschäftige, GEW und Arbeitgeber gemeinsam einen Tarifvertrag entweder aktuell aushandeln oder schon abgeschlossen haben: Die Landesverbände privater Träger der freien Kinder-, Jugend- und Sozialhilfe in Baden-Württemberg, Brandenburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und im Saarland haben mit dem jeweiligen GEW-Landesverband bereits Tarifverträge für die Beschäftigten vereinbart.

In NRW laufen die Verhandlungen zurzeit noch. Auch die Outlaw Kinder- und Jugendhilfe gGmbH, ein bundesweiter Träger mit Sitz in Münster, hat sich auf einen Tarifvertrag mit der GEW geeinigt. Da sich Arbeitgeber oft sträuben, einen Tarifvertrag abzuschließen, könnte man meinen, dieser sei für sie nur mit Nachteilen wie höheren Lohnkosten verbunden – und tatsächlich erschließen sich die Vorteile für viele erst auf den zweiten Blick.

In einer Umfrage des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) nannten fast alle der befragten, tarifgebundenen Betriebe (97 Prozent) zumindest einen Vorteil. Ganz vorne mit dabei waren eine sichere Kalkulationsgrundlage (37 Prozent), Fachkräftesicherung durch standardisierte Löhne (32 Prozent) sowie die Konfliktvermeidung (28 Prozent).

Die Verlagerung des Konflikts um die Arbeitsbedingungen aus dem Betrieb heraus und hin zu Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden ist eine klassische Funktion des Flächentarifvertrags. Künftig ebenso wichtig könnte nach Ansicht der IW-Forschenden Carolin Fulda und Hagen Lesch ein „Image“-Aspekt werden: „Tarifverträge helfen Arbeitgebern, ihr Unternehmen auf dem (Arbeits-)Markt zu positionieren.“ Und auch die WSI-Forschung zeigt, dass das Argument „Tarifvertrag her oder wir gehen!“ in Zeiten des Fachkräftemangels auf Arbeitgeber Eindruck macht.

Hintergrund

CHECK DEIN GEHALT!

Wer nach Tarifvertrag bezahlt wird, bekommt nicht nur mehr Geld, sondern umgeht damit auch eine lästige Pflicht: mit der Chefin oder dem Chef über das eigene Gehalt zu verhandeln. Eine gute Vorbereitung ist hier die halbe Miete – und dazu gehört, sich über die üblicherweise gezahlten Entgelte kundig zu machen.

Ein Blick in den Tarifvertrag ist unumgänglich: Mitglieder erhalten diesen bei ihrer Gewerkschaft, sofern er nicht öffentlich zugänglich ist. Zusätzlich Orientierung bieten Gehaltsportale im Internet. Drei nicht kommerzielle Angebote sind: