lautstark. 17.05.2023

Forderungen der GEW NRW gegen Fachkräftemangel in Kitas

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Für pädagogische und soziale Arbeit muss Zeit sein

Was muss passieren, um die massive Personalnot in der frühkindlichen Bildung zu beenden? Die GEW NRW hat ein Forderungspaket gegen den Fachkräftemangel in Kitas entwickelt. Angelika Brodesser hat daran mitgearbeitet und erklärt, was drinsteht.

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  • Ausgabe: lautstark. 03/2023 | Berufliche Bildung. Die Zukunft gestalten
  • im Interview: Angelika Brodesser
  • Funktion: In der Fachgruppe für sozialpädagogische Berufe
  • Interview von: Simone Theyßen-Speich
  • Funktion: Diplom-Journalistin
Min.

Der Fachkräftemangel in den Kitas spitzt sich seit Monaten weiter zu.  Wie ist die aktuelle Lage in den Einrichtungen?

Angelika Brodesser: In den Kitas haben wir teilweise massiven Personalmangel. Das erlebe ich aktuell in zahlreichen Gesprächen. Viele Träger gehen deshalb mittlerweile dazu über, die Betreuungszeiten für die Kinder einzuschränken. Manchmal werden die Betreuungszeiten nur vorübergehend reduziert. Aber da, wo klar ist, dass sich die Personalsituation in absehbarer Zeit nicht verbessert, werden mit Eltern Änderungsverträge mit reduzierten Betreuungszeiten geschlossen. Von Eltern, die eine 45-Wochenstunden-Betreuung für ihre Kinder behalten möchten, verlangen die Träger teilweise den eindeutigen Nachweis, warum sie die lange Betreuungszeit brauchen oder sogar einen Beschäftigungsnachweis

Viele steigen aus oder reduzieren ihre Arbeitszeit, weil der Arbeitsalltag so belastend ist, dass sie das in Vollzeit nicht mehr schaffen.

 

Wie wirken sich diese Eingriffe auf die Situation der Kitas insgesamt aus?

Angelika Brodesser: Aus den reduzierten Betreuungszeiten resultiert leider ein neues Problem für die Einrichtungen: Dort, wo die Zeiten auch zu Beginn des folgenden Kitajahres reduziert bleiben, wird die Personalbemessung im Kinderbildungsgesetz (KiBiz) nach unten angepasst. Denn in NRW wird der Personalschlüssel laut KiBiz ja nach dem Buchungsverhalten vergeben.

Viele Einrichtungen haben vor allem die 45-Stunden-Betreuung auf 35 Wochenstunden reduziert. Das spart etwas Personal, weil dort nur noch einzelne Gruppen länger als bis 15 Uhr geöffnet haben. Aber die Sorge, dass nach den Sommerferien von dem knappen Personal auch noch etwas abgetreten werden muss, weil es der Einrichtung nicht mehr zusteht, belastet die Leitungen sehr.

War diese Entwicklung in den Kitas absehbar?

Angelika Brodesser: Ich denke, dass es sich in den vergangenen 15 Jahren abgezeichnet hat, dass es immer schwieriger wird, Mitarbeiter*innen in den Kitas zu halten. Viele steigen ganz aus oder reduzieren ihre Arbeitszeit, weil der Arbeitsalltag so hoch belastend ist, dass sie das in Vollzeit nicht mehr schaffen. Auch junge Kolleg*innen im zweiten oder dritten Berufsjahr reduzieren ihre Arbeitszeit, weil sie Sorge haben, krank zu werden. Die zunehmenden Schilderungen von Kolleg*innen, die es nicht mehr schaffen, der Belastung standzuhalten, sind besorgniserregend.

Was hat sich im Berufsalltag für die Beschäftigten in Kitas verändert?

Angelika Brodesser: Zur pädagogischen Aufgabe, die aufgrund der Diversität der Kinder anspruchsvoller wird, kommt ein erhöhter Aufwand für Dokumentationen, die organisatorischen Anforderungen an Kolleg*innen wachsen, teilweise sind sie als einzige Betreuungskraft mit den Kindern in der Gruppe. Da bleibt kaum Zeit für pädagogische Arbeit. Aber das genau ist es doch, wofür die Fachkräfte leben. Das ist auf Dauer unbefriedigend. Leider ziehen viele die Konsequenz „Ich bediene das System nicht mehr“.

Liegt in der Ausbildung der Vergangenheit ein Grund für den Fachkräftemangel?

Angelika Brodesser: Die Erzieher*innenausbildung hatte als schulische Ausbildung ohne Bezahlung samt Anerkennungsjahr immer einen Sonderstatus. Wer sich dafür interessiert hat, musste sich auf den Weg begeben und an einer Schule anmelden. Aktive Werbung für Nachwuchskräfte konnten die Einrichtungen nicht machen, weil sie die Azubis nicht selbst anstellen konnten. Jetzt gibt es zum Glück vermehrt die Praxisintegrierte Ausbildung (PIA) mit höherem Praxisanteil, bei dem die Auszubildenden direkt in der Einrichtung angestellt sind und auch Geld verdienen. 

Die Träger bieten also die Ausbildungsplätze an, trotzdem müssen sich die jungen Leute selbst einen Schulplatz suchen. Der Arbeitsvertrag wird nur gültig in Beziehung mit einem Schulplatz. Auch das ist wieder problematisch: Die Schulen haben meist im Februar oder März ihren Anmeldeschluss. Wer erst danach einen Vertrag abschließt, hat die Erschwernis, noch einen Schulplatz zu erhalten. Im Handwerk oder in kaufmännischen Berufen ist das anders. Da bekommen alle Auszubildenden eine Berufsschule zugeteilt.

Es ist auf jeden Fall richtig, bei PIA die Auszubildenden zu bezahlen, auch wenn die Finanzierung nicht für jeden freien Träger einfach ist. Wichtig wäre es, das schulische Angebot noch zu erweitern. Um ausreichend Stellen zur Verfügung zu haben, wäre es beispielsweise sinnvoll, mit den Kitas einen Ausbildungspakt zu schließen.

Deshalb ist eine unserer Forderungen, das Programm für die Kita-Alltagshelfer*innen dauerhaft zu implementieren und nicht immer nur von Jahr zu Jahr zu finanzieren.

 

Die GEW NRW hat ein Forderungspaket geschnürt, das dem Fachkräftemangel entgegenwirken soll. Worum geht es da genau?

Angelika Brodesser: Das Wichtigste ist, schnell personelle Unterstützung zu erhalten. Deshalb ist eine unserer Forderungen, das Programm für die Kita-Alltagshelfer*innen dauerhaft zu implementieren und nicht immer nur von Jahr zu Jahr zu finanzieren. Aktuell ist es nur bis zum 1. August 2023 gesichert. Alltagshelfer*innen arbeiten nicht pädagogisch, aber sie können den Fach- und Ergänzungskräften Aufgaben abnehmen und diese entlasten. 

Und wer pädagogisches Interesse hat, soll die Chance erhalten, sich weiter zur Ergänzungskraft qualifizieren zu können. Zudem brauchen die Kitas Verwaltungskräfte und IT-Fachleute. Leitungen und pädagogischen Kräften geht viel Zeit für Dokumentationen, Schreiben an Eltern oder andere Verwaltungsaufgaben verloren. Der Dreh- und Angelpunkt sollte aber die pädagogische und soziale Arbeit sein, dafür muss Zeit sein.

Wie kann zusätzliches Personal gewonnen werden?

Angelika Brodesser: Eine unserer Ideen ist, Rentner*innen einzusetzen. Dazu muss man aktiv auf die Menschen zugehen, Anreize schaffen. Eine Unterstützung als Mentor*innen oder für konkrete Projekte wäre denkbar. Man muss überlegen, in welchen Phasen es guttut, von erfahrenen Fachleuten entlastet zu werden. Schon lange fordern wir, dass ausländische Abschlüsse leichter anerkannt werden können und auch die Nachqualifizierung leichter wird. Oft müssen ausländische Kräfte, die lange in dem Bereich gearbeitet haben, in Deutschland noch mal eine grundständige Ausbildung abschließen. Wichtig wären auch professionelle und zeitgemäße Stellenausschreibungen. Oft sind diese nicht ansprechend genug, um sich dort zu bewerben.

Die GEW fordert zudem, multiprofessionelle Teams zuzulassen. Beschäftigte in der Krankenpflege mit Schwerpunkt Kinderpflege können jetzt schon als Fachkräfte arbeiten. Das könnte auf Psycholog*innen, Therapeut*innen, Dolmetscher*innen, Kunstpädagog*innen, Musikpädagog*innen oder andere, die Interesse an Arbeit mit Kindern haben, ausgeweitet werden. Auch Inklusionshelfer*innen oder Hauswirtschafter*innen, die schon in Kitas tätig sind, könnten pädagogisch nachqualifiziert werden.

Muss über die Bezahlung ein zusätzlicher Anreiz geschaffen werden?

Angelika Brodesser: Sicherlich. Mit dem aktuellen Tarifabschluss im kommunalen öffentlichen Dienst sind wir auf dem richtigen Weg. Auch wenn die rentenwirksame Lohnerhöhung – nach der Inflationsausgleichsprämie – erst im März 2024 kommt. Wünschenswert wäre, wenn auch die Praxisanleitung in den KiBiz-Tabellen angerechnet würde. Sie bekommen zwar einen Gehaltszuschlag, aber auch ein Zeitfenster für diese Arbeit wäre wichtig. Nicht zuletzt muss der Gesundheitsschutz der Mitarbeiter*innen in den Fokus gerückt werden, etwa durch Schallschutz für die Einrichtungen.

Würde die Umsetzung der Forderungen der GEW NRW für die Kolleg*innen vor Ort echte Verbesserungen bringen? 

Angelika Brodesser: Die Umsetzung würde auf jeden Fall dazu beitragen, dass die Kolleg*innen wieder eine Perspektive haben. Das muss gestützt werden mit anderen Ansätzen, etwa deklarierten Zeiten für Elterngespräche oder Dokumentation. Dringend müssen auch kleinere Gruppengrößen entstehen – entsprechend den wissenschaftlichen Empfehlungen. 

Um qualifiziert und wertschätzend mit Kindern arbeiten zu können, braucht man mehr Zeit für das einzelne Kind. In vielen Kommunen wird aber mit dauerhaften Überbelegungen gearbeitet. Vorgegeben sind für U3-Gruppen zehn Kinder mit drei Fachkräften, sonst 20 bis 25 Kinder je nach Betreuungszeit. Auch dort, wo das zum Start des Kitajahres noch eingehalten wird, sind spätestens zum Winter die meisten Gruppen überbelegt.

Wie geht es mit den Forderungen weiter und wie stehen die Chancen auf ihre Umsetzung?

Angelika Brodesser: Die Forderungen sollen jetzt zunächst im GEW-Landesvorstand beschlossen werden.1 Dann sollten sie an die Landesregierung, aber auch an die Träger und die Elternverbände weitergeleitet werden. Wir brauchen die Eltern als Unterstützung auf unserer Seite. Sie müssen erkennen, dass der Einsatz auch für die gute Betreuung ihrer Kinder wichtig ist, und ihre politische Macht nutzen. Es wird viel Arbeit werden, zumindest einen Teil der Forderungen umzusetzen.

1 Zum Redaktionsschluss stand die Beschlussfassung durch den Landesvorstand der GEW NRW am 16./17. Juni 2023 noch aus.