lautstark. 11.02.2022

Familienkonflikte in der Schule

Schulrecht

Schulrecht und pädagogische Praxis

Familiäre Konflikte werden oft auch in die Schulen getragen, insbesondere wenn Eltern getrennt sind. Das reicht vom Streit über die Wahl der weiterführenden Schule bis zu falschen Angaben zum Sorgerecht. Dabei ist die Rechtslage in der Regel eindeutig.

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  • Ausgabe: lautstark. 01/2022 | Familie und Sorgearbeit: Zeit für Veränderung
  • Autor*in: Nadine Emmerich
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Wenn bei getrennt lebenden Eltern sowohl die Mutter als auch der Vater nach einem Termin für den Elternsprechtag fragen, dann weiß Achim Elvert schon: „Das wird nicht einfach.“ Viele Machtkämpfe, die eigentlich nichts mit schulischen Angelegenheiten zu tun haben, werden nämlich genau dort ausgetragen: in der Schule. „Da sagt dann prinzipiell der eine hü und der andere hott“, weiß der Leiter der Gesamtschule Ückendorf in Gelsenkirchen aus Erfahrung.

Ein Fall, der beispielsweise regelmäßig auftritt, ist: Die Eltern sind geschieden und haben das gemeinsame Sorgerecht. Beim Wechsel von der Jahrgangsstufe sechs in die Jahrgangsstufe sieben sind sie sich nicht einig über die Wahlpflichtfächer des Kindes: Einer will Technik, die andere eine zweite Fremdsprache. Womöglich schickt der Vater der Lehrkraft dann noch eine Nachricht mit dem Wortlaut: „Beachten Sie den Wahlzettel meiner Ex-Frau nicht.“

Schule kann sich aber nicht auf eine Seite schlagen oder gar aus pädagogischer Sicht selbst entscheiden. Im nordrhein-westfälischen Schulgesetz heißt es in § 2: „Die Schule achtet das Erziehungsrecht der Eltern. Schule und Eltern wirken bei der Verwirklichung der Bildungs- und Erziehungsziele partnerschaftlich zusammen.“ In der Praxis bedeutet das: Lehrkräfte machen auch mal Familienmoderation. „Das ist ein Aufwand von zig Stunden und kostet Nerven“, sagt Achim Elvert. Könnten sich Eltern tatsächlich nicht einigen, müsste ein Gericht entscheiden. „Aber das gab es bei uns noch nicht.“

Ein weiteres Problem, das an der Gelsenkirchener Gesamtschule immer wieder vorkommt: Bei der Anmeldung der Schüler*innen werden falsche Angaben gemacht. In einem extremen Beispiel gab ein geschiedener Vater sich überzeugend als alleiniger Sorgeberechtigter für seinen Sohn aus. Erst später stellte sich heraus, dass der Mann das bei der Mutter lebende Kind ohne deren Einverständnis zu sich geholt hatte. Das erfuhr Achim Elvert aber erst, als ihn die wütende Mutter am Telefon beschuldigte, Teil einer Kindesentführung zu sein.

Im Familienrecht gibt es für alles eine Lösung

Dabei ist auf dem Papier alles ganz einfach: Die sorgerechtlichen Regelungen im Familienrecht, das Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ist, reichten aus, um für jedes Problem, das in einer bestimmten Familienkonstellation auftrete, eine Lösung zu finden, sagt Werner van den Hövel, ehemaliger Leiter der Abteilung Personal Schulbereich, Dienstrecht, Schulrecht im Schulministerium NRW. „Es gibt auf alle Fragen Antworten, ich muss sie allerdings suchen.“

Grundsätzlich gilt dem Experten zufolge: Sind oder waren die leiblichen Eltern verheiratet, haben beide das Sorgerecht, daran ändert auch eine Scheidung erst mal nichts. Beide entscheiden somit gemeinsam über schulische Fragen. Sind Eltern nicht verheiratet, hängt es davon ab, ob dem leiblichen Vater auch das Sorgerecht zuerkannt wurde.

Weil nach Trennungen meist das Residenzmodell praktiziert wird, also ein Kind bei der Mutter oder dem Vater lebt, gilt darüber hinaus: Bei schulalltäglichen Dingen wie einer Zeugnisunterschrift oder der Zustimmung zu einer Klassenfahrt, entscheidet die sorgeberechtigte Person, bei der das Kind wohnt. Anders ist es nur bei Entscheidungen, mit denen die Weichen für den weiteren Bildungsweg gestellt werden – etwa die Wahl der weiterführenden Schule oder die Frage, ob ein Kind auf eine inklusive oder eine Förderschule gehen soll. Dann sind beide Sorgeberechtigten gefragt. Bei dem Beispiel Wahlpflichtfächer sei die Lage derweil nicht ganz eindeutig, räumt Werner van den Hövel ein. „Ich würde das eher als schulalltägliche Entscheidung betrachten, da hiermit noch keine Festlegungen für die Kurswahlen in der Oberstufe verbunden sind.“

Wechselmodell, Patchwork- und Regenbogenfamilien kennt das Familienrecht nicht

Nicht im Familienrecht geregelt ist das Wechselmodell, bei dem das Kind etwa wochenweise bei der einen oder anderen sorgeberechtigten Person ist. In diesem Fall müssten die Eltern sich einigen und eine für die Schule praktikable Lösung finden, wie zu verfahren sei. „Das scheint in den meisten Fällen auch zu klappen.“ Außerdem nennt das Gesetz keine Patchwork- oder Regenbogenfamilien. Auch das ist dem Experten zufolge für die Schule grundsätzlich kein Problem: „Es kommt darauf an, wer personensorgeberechtigt und wer für die Angelegenheiten des alltäglichen Lebens zuständig ist.“

Auf eine gute Kommunikation zwischen Eltern und Schule kommt es an

Trotz vieler gesetzlicher Regelungen treten in der Praxis immer wieder Unklarheiten auf. „Wir wissen oft gar nicht, dass Eltern sich getrennt haben oder inzwischen sogar geschieden sind. Das trägt man ja nicht in die Akte ein. Wir sind also von den Informationen der Eltern abhängig“, erklärt Julia Gajewski, Schulleiterin der Gesamtschule Bockmühle in Essen. Man müsse darauf vertrauen, dass diese stimmten, ergänzt Achim Elvert. In der Schule arbeiteten schließlich keine Ermittler*innen.

Jüngst gab es in der Jahrgangsstufe 10 der Gesamtschule Bockmühle folgenden Fall: Ein Mädchen wohnte bei seiner Mutter, die einen neuen Partner hatte, der extrem streng zu dem Kind war. Dass die Schülerin unbedingt aus der Familie heraus wollte, erfuhr die Schule über Umwege – und konnte dadurch erst spät helfen. Mittlerweile lebt die Schülerin in einer Jugendwohngruppe. „Solche Probleme laufen alle über uns, das rührt mich auch psychisch auf“, sagt Julia Gajewski. „Aber die Situationen sind, wie sie sind, und wir gehen damit um.“

An beiden Gesamtschulen sind die meisten Familien konventionelle Mann-Frau-Beziehungen mit Kindern. In Ückendorf haben jedoch 95 Prozent der Schüler*innen einen Migrationshintergrund. In Essen-Altendorf stammen viele nach Worten von Julia Gajewski „aus konservativen Parallelgesellschaften“. Das führt im Kontext Familie ebenfalls zu Herausforderungen. „Zu Elterngesprächen wird oft der älteste Bruder geschickt“, sagt Achim Elvert. Dieser ist rechtlich aber nicht personensorgeberechtigt und kann die Eltern nicht vertreten, auch nicht, wenn er volljährig ist. An die Stelle der Eltern könnten nach einer besonderen Regelung im NRW-Schulgesetz nur Personen wie die Großeltern oder eine Pflegefamilie treten, wenn ihnen das Kind anvertraut sei und das Einverständnis der Eltern schriftlich vorliege, erklärt Werner van den Hövel.

Zudem verkomplizieren mangelnde Sprachkenntnisse der Eltern die Kommunikation, teils ist bei Elterngesprächen eine übersetzende Person erforderlich. „Das ist anstrengend und erschwert es, eine emotionale Bindung aufzubauen“, sagt Julia Gajewski. An ihrer Schule wird das Kollegium daher für sogenannte sprachsensible Elterngespräche fortgebildet. Achim Elvert hält auch Fortbildungen für Konfliktfälle mit Eltern, die sich nicht einig sind, für sinnvoll, gibt aber zu bedenken: „Wofür soll man Lehrkräfte noch alles fortbilden? Es muss ja auch noch Unterricht stattfinden.“

Erziehungsauftrag wird überfrachtet

Der Erziehungsauftrag von Schulen werde zunehmend überstrapaziert, betont Julia Gajewski. „Wir machen Sehtests, kontrollieren Impfungen, entwickeln ein Präventivprogramm gegen sexuelle Übergriffe – ich könnte die Liste endlos verlängern.“ Viele Eltern ihrer Schüler*innen hätten selbst Probleme, etwa Angst um den Job und existenzielle Sorgen, sodass sie ihre Kinder nicht mehr unterstützen könnten. „Wir können aber nicht alle familiären Probleme lösen.“

Lehrkräfte sind zwar für alles verantwortlich, was in der Schule passiert. Auch bei Verdacht der Kindeswohlgefährdung zu Hause müssen sie handeln. Den Möglichkeiten der Pädagog*innen sind indes Grenzen gesetzt: „Schule kann nicht den Erziehungsstil der Eltern ändern“, sagt Achim Elvert – etwa wenn es kulturell bedingt patriarchalische Strukturen gebe. „Dann können wir zwar vermitteln, was wir uns im Sinne einer freiheitlich-demokratischen Erziehung vorstellen, arbeiten dabei aber gegen das Modell, das den Kindern die meiste Zeit vorgelebt wird.“

Reagieren sollten Lehrkräfte, wenn Erziehungsarbeit zeitliche Grenzen überschreite, sagt Julia Gajewski. Durch die Kommunikation per Smartphone gebe es praktisch kein Ende der Arbeitszeit mehr, Lehrer*innen würden teils noch nachts angeschrieben. „Man kann aber nicht allzeit bereit sein. Da muss man selbst für das Ende sorgen – auch wenn es schwierig ist.“