lautstark. 17.05.2023

Den Kolleg*innen geht die Luft aus!

BerufskollegLehrkräftemangel

Kommentar: Lehrkräftemangel an Berufskollegs

Welche Auswirkungen der Lehrkräftemangel an Berufskollegs für den Arbeitsalltag in den Bildungseinrichtungen sowie unsere Gesellschaft hat, weiß Johannes Segerath genau. Er ist Schulleiter am Berufskolleg Ehrenfeld in Köln. Seine Bestandsaufnahme zeigt: Die Situation ist alarmierend und untragbar.

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  • Ausgabe: lautstark. 03/2023 | Berufliche Bildung: Die Zukunft gestalten
  • Autor*in: Johannes Segerath
  • Funktion: Schulleiter des Berufskollegs Ehrenfeld in Köln und Mitglied der GEW NRW
Min.

Ich komme als Vorsitzender einer Prüfungskommission in ein Berufskolleg und treffe die dortige Schulleitung. Nach dem „Guten Morgen, Herr Kollege“ folgt der Satz: „Versuch es erst gar nicht!“ Wir beide wissen, was damit gemeint ist – Abwerbung der Lehramtsanwärter*innen für das eigene Berufskolleg ist ein No-Go! Diese kurze Anekdote beschreibt das Problem des Lehrkräftemangels an unseren Berufskollegs sehr eindrücklich. Insbesondere in den technischen und den sozialpädagogischen Bereichen der beruflichen Bildung herrscht absolute Notlage.

Lehrkräftemangel hat Auswirkungen für die Wirtschaft

Warum aber bedarf es einer besonderen Perspektive auf den Lehrer*innenmangel an Berufskollegs in NRW? Haben andere Schulen nicht auch damit zu kämpfen? Ja, natürlich. Die Situation an Berufskollegs ist dennoch eine besondere. Denn diese – nach der Grundschule – zweitgrößte Schulform in NRW mit circa 510.000 Schüler*innen sorgt für die Ausbildung von Fachkräften, die in allen Bereichen fehlen, und ist somit ein wichtiger Faktor für die Wirtschaft der jeweiligen Region. Mit Blick darauf haben Berufskollegs drei Aufgaben zu bewältigen:

  • duale Ausbildung in über 300 sehr verschiedenen Berufen
  • Ausbildungsvorbereitung und Berufsorientierung, die Bildungsarbeit mit Schüler*innen umfasst, die immer öfter ohne Schulabschluss an Berufskollegs kommen, nach der Sekundarstufe I keine Berufswahl treffen konnten oder wollten bis hin zur Beschulung von Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt (kursiv schreiben) Geistige Entwicklung
  • Vermittlung allgemeinbildender Schulabschlüsse vom Hauptschulabschluss bis zur allgemeinen Hochschulreife – oft in Verbindung mit beruflichen Qualifikationen und Abschlüssen

Spezielle Anforderung an Berufskolleglehrkräfte

Aufgrund dieses breiten Spektrums brauchen Berufskollegs besonders ausgebildete Lehrkräfte. Sie müssen:

  • fachliches Wissen in den jeweiligen Ausbildungsberufen vermitteln und dabei mit der rasanten (auch digitalen) Entwicklung in Handwerk, Wirtschaft und Gesellschaft Schritt halten,
  • überfachliches Wissen in Verbindung mit beruflichen Zusammenhängen vermitteln und
  • junge Menschen mit schwierigen und gebrochenen Bildungsbiografien annehmen und fördern und ihnen Selbstvertrauen und Orientierung ermöglichen, um ihnen einen Weg in das Berufsleben zu ebnen.

Ein nicht ungewöhnlicher Tagesablauf sieht für eine Lehrkraft an einem Berufskolleg folgendermaßen aus:

  • zwei Stunden Englisch im Beruflichen Gymnasium Gesundheit mit Konversation über medizinische Sachverhalte
  • zwei Stunden Kommunikationstraining in einer inklusiven Klasse in der Ausbildungsvorbereitung mit fünf Schüler*innen mit Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung
  • drei Stunden Praxishospitation bei einer*einem Schüler*in in der Ausbildung zur Kinderpflege in der sozialpädagogischen Praxisstelle

Großer Konkurrenzkampf um Fachkräfte zwischen Berufskollegs, Wirtschaft und Industrie

An unseren Universitäten wird nur in speziellen Nischen die Ausbildung solch breit aufgestellter und motivierter Lehrkräfte realisiert. Viele unserer Berufskolleglehrkräfte haben deshalb zunächst eine Berufsausbildung abgeschlossen oder umfassende berufliche Erfahrungen außerhalb des Systems Schule gesammelt, bevor sie sich für die Lehrtätigkeit an einem Berufskolleg entschieden haben. Das zeigt: Der Weg ans Berufskolleg verläuft für Lehrer*innen oft über Zwischenstationen. Das ist sehr oft gewinnbringend. Leider kommen aber zu wenig Lehrkräfte an die Berufskollegs, insbesondere für die technischen Bereiche, da sie mit Wirtschaft und Industrie konkurrieren. 

Dieser Konkurrenzkampf beginnt bereits während des Studiums. Viele Lehramtstudierende ändern beispielsweise die Ausrichtung ihres Studiums, um nach dem Abschluss in die freie Wirtschaft zu wechseln. Das Dilemma ist klar: Ohne Lehrkräfte, die an den Berufskollegs Fachkräfte ausbilden, gibt es zu wenig Fachkräfte sowohl für Handwerk, Industrie, Handel und wichtige soziale Aufgaben als auch für die Berufskollegs selbst. Abhilfe für den Lehrkräftemangel soll der Seiteneinstieg schaffen. Viele halten die Ausbildung jedoch nicht durch oder wechseln an andere Standorte. Die Ressourcen dafür soll das Berufskolleg bereitstellen.

Abschaffung des Sonderpädagogikstudiums und Generationenwechsel verschlimmern Situation

Unverständlich ist angesichts der Gesamtsituation, dass das Studium der Sonderpädagogik für das Berufskolleg abgeschafft wurde und mit über einem Jahrzehnt Verspätung Ausbildungskapazitäten für Lehrkräfte für sozialpädagogische Ausbildungsberufe erweitert wurden – dies wird allerdings erst in der nächsten Dekade wirken.

Des Weiteren kommt erschwerend der Generationenwechsel hinzu. Denn junge Kolleg*innen, für die Familienplanung samt Elternzeit eine Rolle spielen, fallen längere Zeit aus. Vertretungslehrkräfte zur Überbrückung dieser Lücken sind für die speziellen Anforderungen an Berufskollegs kaum noch zu finden. 

Der Markt ist leergefegt. Die Folgen sind verheerend:

  • Stundentafeln sind kaum zu erfüllen – Qualität ade.
  • Die Lehrkräfteausbildung wird mit letzten Ressourcen gestemmt – Qualität ade.
  • Praktikant*innen werden irgendwie nebenbei begleitet – Qualität ade.
  • Lerngruppen in Maximalgröße werden in zu kleinen Klassenräumen unterrichtet – Qualität ade.
  • Differenzierungs- und andere freiwillige Angebote werden gestrichen – Qualität ade.

Den Kolleg*innen, die unter diesen Bedingungen jeden Tag ihr Bestmögliches geben, geht die Luft aus! Das besorgt mich als Schulleiter enorm.

Klare Forderungen zur Verbesserung der Situation an Berufskollegs

Und wäre all das nicht genug, treffen die benannten Mängel auf maximalen Verwaltungsaufwand durch Überregulierung und Ressourcenbedarf, weil Lehrkräfte zusätzlich die IT betreuen müssen, Beratungserfordernisse bei den Schüler*innen erfüllen müssen, weil Sozialarbeiter*innen fehlen und vieles mehr, was an den Berufskollegs an Zusatzaufgaben aufgefangen werden soll. Wir benötigen deshalb dringend:

  • Durchlässigkeiten bei den Laufbahnen,
  • Weiterqualifizierungsmöglichkeiten,
  • duale Lehramtsausbildungen,
  • einen für Schule und angehende Lehrkräfte leistbaren Seiteneinstieg und
  • deutlich mehr Fachpersonal für IT, Verwaltung und Sozialarbeit.

Beneiden uns nicht so viele Länder um unser duales Ausbildungs- und Berufsbildungssystem? Die Theorie ist gut, die Umsetzung in der Praxis ist massiv gefährdet. Nach 33 Jahren Tätigkeit als Berufskolleglehrer finde ich immer noch, dass es ein großes Glück ist, in dieser Schulform mit tollen jungen Menschen und engagierten Kolleg*innen arbeiten zu dürfen. Aber es tut wirklich weh, diese Entwicklungen mitzuerleben.