Die Schule ist nach dem Bekunden der Koalitionspartner wichtigster Bildungsort in einem nicht näher definierten sozialen Raum. Zum Vorteil aller Schulen haben sie fünf gravierende Vorhaben und Forderungen formuliert, die die beste Bildung für alle sichern sollen: bauliche Modernisierung und technisch gut ausgestattete Schulen, beste Ausbildung für Lehrer*innen, engagierte Eltern, mehr Autonomie für die Schulen vor Ort sowie Leuchtturmprojekte zur Qualitätsentwicklung aller Schulen.
Nun ist es keine allzu abwegige Erkenntnis, dass die beste Bildung im wichtigsten Bildungsort Schule wesentlich im Unterricht realisiert wird. Dieser Unterricht soll zukünftig allerdings nicht qualitativ, sondern allein quantitativ garantiert werden. Unterrichtsausfall wird dazu mit allen Mitteln abgebaut. Eine transparente Definition für „den Unterrichtsausfall“ wird vorgelegt. Die Forderung und das Vorhaben der Unterrichtsgarantie sind nun wirklich nicht neu und schon gar nicht innovativ, denn der Output wird sich nicht ändern, wenn der Input schon seit langem nicht stimmt und nicht reicht.
Mehr Freiheit und Autonomie für mehr Bildungsqualität
Fast zwei Seiten des Koalitionsvertrages befassen sich mit der Absicht, mehr Freiheit und Eigenverantwortung für die Schulen durch ein eigenes Schulfreiheitsgesetz zu ermöglichen. Mehr Autonomie, mehr Gestaltungsfreiheit, mehr Gestaltungsmöglichkeiten oder mehr Handlungsspielräume sollen geschaffen werden, die nicht in einer Reform von oben verordnet werden und mit zusätzlichen Belastungen versehen sind. Mehr Freiheit und Autonomie tragen nach dem Willen der Koalitionäre zu mehr Bildungsqualität bei. Die größeren Gestaltungsfreiräume in einem Schulfreiheitsgesetz sollen sowohl in organisatorischer, finanzieller, pädagogischer als auch in personeller Hinsicht gemeinsam mit den Schulen entwickelt werden.
Gerade in NRW ist dieser Ansatz nicht so furchtbar neu. Schon 2002, also vor 15 Jahren, startete unter rot-grüner Landesregierung das Modellvorhaben „Selbstständige Schule“, das die viel zitierte qualitätsorientierte Selbststeuerung an Schulen in den Bereichen Personalentwicklung, Ressourcenbewirtschaftung, Unterrichtsorganisation sowie Mitwirkung und Partizipation zum Ziel hatte. Auch damals wurden in einer Verordnung zum Schulentwicklungsgesetz die größeren Gestaltungsfreiräume in den genannten Bereichen festgelegt.
Insoweit lässt das angekündigte Gesetz noch nicht viel Neues erkennen. Jedoch steht zu befürchten, dass mindestens in drei Bereichen Ungemach droht:
1. Mitbestimmung, Mitwirkung, Partizipation? Da ist dann Schluss.
Bei aller Vorläufigkeit der angekündigten Inhalte des Schulfreiheitsgesetzes fällt zumindest auf, dass die Gemeinsamkeiten in den alten und neuen Überschriften da aufhören, wo von Mitwirkung und Partizipation die Rede ist. Gerade bei größeren Gestaltungsmöglichkeiten für die einzelne Schule kommt es aber ganz besonders darauf an, die beteiligten Lehrer*innen, die Eltern und die Schüler*innen angemessen einzubeziehen. Davon ist bisher nichts erkennbar! Es ist allerdings auch nicht explizit ausgeschlossen. Für die parlamentarische und außerparlamentarische Opposition gibt es dazu viel zu tun.
2. Ausgebildete Pädagog*innen? Flexibilisierung beim Personal.
In der Ressourcenbewirtschaftung ist von sogenannten freien Personalmitteln die Rede, über deren Verwendung bei Einstellungen die Schulen selbst entscheiden können. Abgesehen von sicherlich noch zu erstreitenden Mitbestimmungs- und Mitwirkungsfragen scheint ein anderer Aspekt von großer Bedeutung zu sein: In einem angekündigten Programm der offenen Schule beabsichtigen die Koalitionäre, vermehrt Personen aus der beruflichen und akademischen Praxis in den Unterricht einzubeziehen. So kann es also sein, dass ein Teil der versprochenen „bestmöglichen Lehrerinnen und Lehrer“ keinerlei pädagogische Ausbildung haben, aber dennoch auf Basis der freien Personalmittel dem Wunsch der einzelnen Schule entsprechend eingestellt werden. Deshalb muss in der kommenden Legislaturperiode darauf geachtet werden, wie die Ausbildung und Qualifizierung der zukünftigen Lehrer*innen gesichert wird. Und ob bei aller Flexibilisierung in der Personaleinstellung in erster Linie Pädagog*innen den Unterricht gestalten.
3. 20 Jahre Entwicklung dahin? Beste Bedingungen nur durch Kooperation.
Die wohl auffälligste Abweichung beziehungsweise die gravierendste Veränderung zur bestehenden Entwicklung eigenverantwortlicher Schulen in NRW ist sicherlich darin zu sehen, dass ein Schulfreiheitsgesetz augenscheinlich völlig losgelöst vom inhaltlichen, organisatorischen und strukturellen Kontext gedacht wurde. Insbesondere entsteht der Eindruck, dass das Land die alleinige Definitionsmacht über diese Entwicklungsperspektive hat.
Völlig ignoriert wird die fast 20-jährige Entwicklung im Rahmen regionaler Bildungslandschaften. Die mühsam aufgebaute Kooperation mit wichtigen Bildungsakteur*innen vor Ort und besonders die Zusammenarbeit mit den Kommunen weit über deren Sachaufwandsträgerschaft hinaus, kommt nicht mehr vor. Hier ist zu mahnen, dass die vielfach zitierte Verantwortungsgemeinschaft zwischen Land und Kommune, den Jugendhilfeträgern und anderen wichtigen lokalen Akteur*innen unbedingt weiterentwickelt werden muss. Das Land wird „beste Bedingungen“ für die Bildung der Kinder und Jugendlichen auf keinen Fall alleine schaffen können.
Kaum Zeit für Fortbildung durch neuen Aufgabenkatalog
Insgesamt wird im Koalitionsvertrag davon ausgegangen, dass die Fortbildung für Lehrer*innen auf den Prüfstand gehört. Ob eine stärkere Orientierung auf die Fachlichkeit im Unterricht dabei das Wichtigste ist, muss bezweifelt werden. Unbestreitbar ist jedoch, dass Fortbildung erheblich ausgeweitet werden und dafür auch Zeit gegeben werden muss.
Schon der von den Koalitionären geplante Aufgabenkatalog lässt erahnen, was auf die Schulen zukommt: Neben den obligatorischen Intensivierungen bei der MINT-Förderung, dem Fremdsprachenunterricht und der Verbesserung der Rechtschreibung sollen ja auch noch nebenbei das Fach Wirtschaft „neu“ unterrichtet und alle Jugendlichen intensiv auf die Digitalisierung vorbereitet werden.
Wer unterstützt die Lehrkräfte bei der Umsetzung?
Ein neues Schulfreiheitsgesetz, eine digitale Plattform zur Erfassung des Unterrichtsausfalls oder eine schulscharfe Veröffentlichung der Ergebnisse der Qualitätsanalyse sind wohl kaum als geeignet zur Unterstützung der Schulen anzusehen. Ohne eine angemessene Fortbildungsinitiative mit passgenauen Angeboten und hinreichenden Zeitbudgets werden die Schulen den Unterricht qualitativ nicht entsprechend ausweiten und verbessern können. Auch das keine neue Erkenntnis: Eine bloße quantitative Betrachtung hilft überhaupt nicht weiter.
Freiräume juristisch gewähren mag ja für den Landtag und die relevanten Referate und Abteilungen des Ministeriums Mühe kosten, haushaltsrelevante Kosten entstehen dabei allerdings nicht. Erst die Umsetzung und Gestaltung der gewährten Gestaltungsfreiräume machen die Einstellung von zusätzlichen Haushaltsmitteln und eine unbedingte Kooperation der beteiligten Bildungsakteur*innen erforderlich:
- Entwicklungszeit – sprich: Personalstellen für die Gewährung von Ermäßigungen.
- Strukturelle Absicherung – sprich: Vereinbarungen, Kontrakte und kooperative Steuerung und Partizipation.
- Zusätzliche Ressourcen – sprich: Honorare und Sachmittel für die Fortbildungen.
- Und nicht zuletzt die konzertierte Anstrengung aller Akteur*innen.
Wilfried Lohre, Netzwerkpartner im „Netzwerk kommunale Bildung“ und ehemals Referatsleiter im Schulministerium