Inklusion – wer macht’s möglich?

In den Niederlanden schultern Lehrkräfte gesellschaftliche Herausforderungen durch Mehrarbeit

Eine niederländische Bildungsstudie hat ergeben, dass Segregation im Unterricht zunimmt. Die Prüfungsergebnisse von Schüler*innen unterscheiden sich deutlich – bedingt durch ihre soziale Herkunft. Eltern, die es sich leisten können, unterstützen ihre Kinder durch Nachhilfe. Andere Eltern sprechen mit ihren Kindern hingegen wenig bis gar kein Niederländisch, weil sie selbst die Sprache nicht beherrschen. So unterschiedlich wie die familiäre Situation der Kinder ist, so vielfältig sind auch die Ursachen für Segregation.
Inklusion – wer macht’s möglich?

Foto: Cydonna/photocase.de

Im Rahmen der niederländischen Bundestagswahl waren die Bedingungen an den Schulen nur ein Randthema. Die Voraussetzungen für guten Unterricht tauchten in den meisten Wahlprogrammen nicht auf. Als die Studie zur Segregation jedoch wenige Wochen später veröffentlicht wurde, war das Thema sofort auf der politischen Agenda.

Praktisch stellt sich die Situation beispielsweise so dar: In einer Gesamtschule in Roermond werden die etwa 1230 Schüler*innen gefordert, Bestleistungen zu zeigen. Jede Woche gibt es verschiedene Prüfungen, die benotet werden. Aber lernen die Schüler*innen wirklich das, was an der Universität benötigt wird? Nein. Deshalb findet an der Schule seit etwa zwei Jahren ein Umdenken statt.

Schüler*innen bekommen nachmittags Unterstützung

Es geht darum, dass die Schüler*innen selbst bemerken sollen, was sie schon wissen und was sie noch lernen müssen. Um ein Thema zu lernen und den Grund herauszufinden, warum es gelernt werden soll, braucht jede*r Schüler*in unterschiedlich viel Zeit. Deshalb bietet die Schule für Kinder, die Lernschwierigkeiten haben und ihre Hausaufgaben nicht zu Hause machen wollen oder können, die Möglichkeit an, nach der letzten Unterrichtsstunde noch in der Schule zu bleiben. Die Kolleg*innen stecken besonders viel Zeit und Energie in diese Schüler*innen: Sie wollen alle Kinder wahrnehmen und ihnen Vertrauen schenken. Gleichzeitig fordern sie die Eltern auf, Niederländisch zu sprechen und Interesse am Schulalltag zu zeigen. Damit die Verständigung funktioniert, müssen oft ältere Geschwister zwischen Eltern und Lehrer*innen dolmetschen.

Die größte Herausforderung einer inklusiven Schule ist die kulturelle Vielfalt. Sie bezieht sich nicht nur auf den Unterricht, sondern auch auf alle anderen Themen, die für eine Schule wichtig sind: null Toleranz für Mobbing, Akzeptanz der LSBTI-Schüler*innen und -Lehrer*innen, sowie demokratische Erziehung. Die Schule setzt sich ehrgeizige Ziele und greift gesellschaftliche Fragen auf, um ihren Schüler*innen das Handwerkszeug für das 21. Jahrhundert zu geben.

Lehrer*innen arbeiten zu viel, die Politik sieht zu

Lehrer*innen arbeiten schon an der Belastungsgrenze: Die meisten Lehrkräfte arbeiten pro Woche etwa sechs Stunden zu viel. Es gibt zu wenige Lehrkräfte, Tendenz steigend. Jugendliche entscheiden sich immer seltener dazu, Lehrer*in zu werden und die Gehälter sind nicht mehr marktkonform. Aus diesen Gründen haben rund 200.000 Menschen im Juni 2017 eine Petition für mehr Gehalt und eine Senkung der Arbeitszeit für Lehrer*innen im Grundschulbereich unterschrieben. Ein erster Streik fand bereits Ende Juni statt. Für den kommenden Herbst planen die Gewerkschaften weitere Aktionen im gesamten Bildungsbereich.

Und die Politik? Die bleibt stumm. Es stehe kein Geld zur Verfügung und zunächst müsse die neuen Regierung gebildet werden. Die Lehrer*innen fühlen sich nicht verstanden und fordern die Politiker*innen auf, sich für Lehrkräfte einzusetzen. Die Gewerkschaften versprechen jedenfalls einen heißen Herbst!

Robert Hommen, Vorstandsmitglied der Algemene Onderwijsbond, Lehrer Mathematik und Abteilungsleiter Lyceum Schöndeln in Roermond