„Es gibt keine andere als politische Pädagogik.“ Was Paulo Freire schon im Jahr 1985 feststellte, ist auch rund 30 Jahre später noch hochaktuell. Aber wie verhält sich die Politik im Moment zur Pädagogik? Welchen Stellenwert hat Kinder- und Jugendhilfe in unserem reichen Land? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, standen beim siebten und letzten GEW-Jugendhilfekongress von Organisator Norbert Hocke und seinem Mitstreiter Bernhard Eibeck in Berlin-Neukölln drei Themen auf dem Programm: „Kinder- und Jugendhilfe im Spannungsfeld gesellschaftlicher Interessen“, „Strukturen und Ressourcen: Recht, Finanzierung, Personal“ und zum Abschluss „Inklusion: Solidarität als Recht jedes Einzelnen auf Teilhabe“.
Sportabstinenz als Indikator für schlechtere Bildungschancen
Erst am 7. April 2017 kommentierte Redakteur Christoph Onkelbach in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung eine Sportstudie, die besagt, dass mehr als die Hälfte der Jugendlichen von Eltern ohne Berufsausbildung keinen Sport treiben. Die Sportabstinenz sei ein Symptom, das insgesamt auf die schlechteren Bildungschancen ärmerer Kinder verweise. Sie sprächen schlechter Deutsch, könnten weniger gut lesen. Sie sind auch häufig übergewichtig. Eine Schulamtsärztin in Bochum stellte zudem fest, dass Kinder aus sozialschwachen Familien schlechter hören und sehen. Schon beim Schulstart seien sie in jeder Hinsicht im Nachteil – so lautet das Resumée des Redakteurs. Unsere Schulen müssten so ausgestattet, dass sie alle Kinder mitnehmen und fördern könnten.
Doch die Förderung muss schon früher beginnen – spätestens mit der Geburt eines Kindes. Wenn Kinder aus sozialschwachen Familien schlecht betreut, erzogen und gebildet in die Schule kommen, ist für viele der Zug schon abgefahren. Das zeigen sowohl die bundesweite Analphabetenquote als auch die Zahl der Jugendlichen, die die Schule ohne Abschluss verlassen oder mit einem schlechten Abschluss keinen Ausbildungsplatz bekommen. Laut UN-Kinderrechtskonvention haben alle Kinder das Recht, von Anfang an gefördert zu werden.
Rund 40 Kommunen nehmen an Modellprojekt in Nordrhein-Westfalen teil
Einen Anfang hat das Modellprojekt des Landes Nordrhein-Westfalen „Kein Kind zurücklassen“ gemacht: 18 Modellkommunen gingen damit an den Start. 22 Kommunen sind 2017 dazu gekommen. Prävention hilft und die Politik muss das Wissen in Handlungen umsetzen und den benötigten Bedarf finanzieren.
Unter der Fragestellung „Wer zahlt wem für was wie viel?“ hielt Professor Dr. Stefan Sell von der Hochschule Koblenz Campus Remagen einen Vortrag „Ressourcensteuerung im Dschungel der Zuständigkeiten“. Es sei die klassische Vorgehensweise der Ökonomie, Aufgaben und Ziele zu definieren und dann zu budgetieren. Das werde bei der Sozialarbeit wie auch im Pflegebereich anders herum gehandhabt. Das zentrale Dilemma der Sozialarbeit sei, dass ein Budget vorgegeben wird. Dadurch können gesellschaftlich notwendige Aufgaben nicht erfüllt werden.
Bund muss stärker an der Finanzierung von Kitas beteiligt werden
Was ist also der Maßstab? Im Jahr 2015 betrug das Sozialbudget der Bundesrepublik Deutschland 888 Milliarden Euro. 60 Prozent des Bundeshaushalts flossen in die Krankenversicherung, die Pflegeversicherung und die Rentenversicherung. Nur vier Prozent davon – also rund 36,2 Milliarden Euro – müsste man einstellen, um in der Kinder- und Jugendhilfe wirklich etwas zu bewegen. Stattdessen explodieren die Sozialkosten und niemand handelt. Sie müssten kritisch geprüft werden, weil das Geld für andere gesellschaftlich wichtige Aufgaben fehlt. So hinterfragte Stefan Sell auch, warum bei der Finanzierung der Kinder- und Jugendhilfe von Kosten und nicht von Investitionen geredet wird. Die gesellschaftlichen Nutzeffekte von Kitas seien sehr hoch. Das solle die GEW aggressiver thematisieren.
Die gesellschaftliche Diskussion sei gefangen in einer perversen Kosten-Nutzen-Architektur. Die eigentlichen Nutzer*innen müssten an den Kosten beteiligt werden. Die Hauptlast der Finanzierung der Kitas tragen – in dieser Reihenfolge – die Kommunen, die Länder, Eltern über Beiträge, die Träger und nachrangig der Bund. Die Unterfinanzierung liegt bei rund zehn Milliarden Euro. Volkswirtschaftlich möglich sei eine Beteiligung des Bundes von rund 40 Prozent an der Finanzierung der Kitas. Bedingt durch den Föderalismus versickert jedoch die Hälfte der zugewiesenen Bundesmittel, weil die Länder das Geld nicht vollständig an die Kommunen weiterreichen. Weil sich der Bund aber nur über die Länder an der Finanzierung beteiligen kann, brauche man eine Zweck- und Regelbindung um sicherzustellen, dass die Mittel tatsächlich bei den Kitas ankommen. Stefan Sell schlägt daher ein Kitafondmodell vor, damit die Mittel – neben den Haushalt gestellt – zweckgebunden bei den Kitas ankommen.
Denkbar wäre eine Auseinandersetzung mit dem von Stefan Sell vorgeschlagenen Kitafondsmodell sowie mit seinem Konzept der Kindergrundsicherung, welches sich an der nationalen Familienkasse Frankreichs orientiert, in die die Arbeitgeber per Umlage ein Drittel der Beiträge einzahlen.
Barbara Sendlak-Brandt, Mitglied im Referat J (Jugendhilfe und Sozialarbeit) der GEW NRW