Schule muss individuelle Lebensläufe fördern können

Fachgespräch der GEW NRW: Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I

Übergänge sind ein entscheidendes Merkmal im Bildungswesen. Das gilt zunächst aufgrund der Bedeutung, die sie für das gegliederte Schulwesen und die damit verbundenen Berechtigungen und Statuspassagen haben. Warum sind die Auslese- und Zuteilungspraktiken der Schule besonders wichtig? Welche Auswirkungen haben sie auf Schüler*innen, deren Eltern und das Schulsystem insgesamt? Diesen und anderen Fragen geht Bildungswissenschaftlerin Silvia-Iris Beutel nach, die auch am 9. Mai 2019 beim Fachgespräch Grundschule der GEW NRW dabei sein wird.
Schule muss individuelle Lebensläufe fördern können

Foto: klimkin / Pixabay

Bis heute erkennen wir im deutschen Bildungswesen die benachteiligende Wirkung sozialer Selektivität, die Bildungschancen immer noch nicht alleine an Leistungserbringung und individuelle Lernprofile koppelt, sondern den sozialen Status und die materiellen Möglichkeiten von Herkunftsmilieus reproduzieren. Wir müssen über die Risikoerfahrung vor allem für jene Schüler*innen diskutieren, deren Kompetenz und Entwicklung nicht den erwartbaren Standards und Altersnormen entsprechen.

Schule in Deutschland verstößt oft gegen Chancen- und Bedürfnisgerechtigkeit

Die Befunde der empirischen Bildungsforschung zeigen anhaltend, dass Schule in Deutschland Schüler*innen in ihren jeweiligen biografischen Lern- und Lebenslagen nicht so fördert, wie das von einer „demokratischen Leistungsschule“ erwartet werden muss.

Bildungswissenschaftler Wolfgang Edelstein hat darauf verwiesen, dass mit der fehlenden Chancengerechtigkeit auch eine kinderrechtlich wirksame und biografische Verletzung einhergeht: „Wir haben gesehen, dass die schulischen Verhältnisse oft gegen beides verstoßen – Chancengerechtigkeit wie Bedürfnisgerechtigkeit – und so de facto kinderfeindliche Umwelten konstituieren.“ Weiter formuliert er: „Strukturen, Institutionen und Traditionen, die Chancengleichheit beschränken, erzeugen oft Bedingungen und Verhältnisse, das heißt Lebenswelten, die das Recht auf entwicklungsgerechte Formen und Räume des Aufwachsens verletzen“.

Drei Arten von Übergängen in der Laufbahn von Schüler*innen

Übergänge können längst nicht mehr nur als Gelenkstellen der Laufbahnplanung im Bildungssystem verstanden werden. Vielmehr müssen wir in ihnen die Folgen individueller und schulisch bedingter Erfahrungen des Aufwachsens erkennen. Nicht selten werden dabei von den Heranwachsenden Anpassungsleistungen verlangt, ohne dass die Schule selbst kompetent mit Übergängen umgeht: „So gesehen hat man es bei dem Lebenslauf von Heranwachsenden mit mindestens drei Arten von Übergängen zu tun: mit den zeitlich festgelegten, den erwartbaren ‚Statuspassagen‘, mit den individuell und ungeplant eingetretenen Ereignissen – und mit den entwicklungspsychologisch induzierten Veränderungen. All diese Übergänge sind – was ihr Auftreten und ihre Bewältigung angeht – mit gesellschaftlichen Erwartungen von ‚Normalität‘ verknüpft“, so beschreibt es Erziehungswissenschaftler Klaus-Jürgen Tillmann.

Er stellte fest, dass im „öffentlichen Bildungssystem der Gegenwart (…) kaum Platz für eine Individualisierung der Lebensläufe“ ist. Das aber sollte Schule erreichen – eine Förderung individueller Lebensläufe, die Potenziale der Lernenden erkennt und ihre Stärken als bestmögliche Chancen für einen erfolgreichen Lebensentwurf entfaltet.

Reformen für die demokratiepädagogische Schulentwicklung!

Im Zuge der Würdigung von Vielfalt und Differenz und damit verbundener Notwendigkeit zu demokratiepädagogischer Schulentwicklung ist unbestritten, dass Übergänge professionell im Sinne der Verzahnung von Bildungsleistungen gestaltet – und wo in der Schulentwicklungsplanung bereits thematisiert – entsprechend reformiert werden müssen.

Dazu ist Netzwerkarbeit zwischen den eine Bildungsbiografie prägenden Akteuren und Institutionen ebenso unerlässlich wie eine wissenschaftliche Begleitung, wobei dann die Erträge solcher Zusammenarbeit an fortgeschriebenen erfolgreichen Schüler*innenbiografien bemessen werden können.    

Kinder und Jugendliche an Übergängen beteiligen

Sowohl für Lehrer*innen abgebender als auch aufnehmender Schulen entstehen mit einem solch reflektierten Übergangsmanagement Erwartungen an kollegiale Zusammenarbeit und konzeptionelle Absprachen in Blick auf Vermittlungs-, Beratungs- und Förderkonzepte. Diese betreffen auch die rhythmisierte Lernorganisation und vielfaltsgerechte Unterrichtsgestaltung, die kommunikative Lernbegleitung und Leistungsbeurteilung wie auch das Verantwortungslernen. Vor allem aber geht es darum, die Kinder und Jugendlichen selbst an einer für sie zentralen Passage zu beteiligen!

Univ.-Prof‘in. Dr. phil. habil. Silvia-Iris Beutel, Bildungswissenschaftlerin an der Technischen Universität Dortmund