Gesellschaftlich ist Vielfalt längst Fakt. Nahezu jede*r vierte Bundesbürger*in hat einen Migrationshintergrund, in Großstädten ist es unter jüngeren Menschen die Hälfte. Christliche, muslimische oder nicht-gläubige Väter und Mütter bringen ihre Kinder in Kitas. Homo-, Hetero-, Bi-, Intersexuelle und Transmenschen gehen einkaufen. Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen besuchen Kinos. Warum ist Vielfalt in Vorstandsetagen ebenso wie Lehrerzimmern oder Gewerkschaftsgremien noch kein Normalfall?
Konzepte für mehr Vielfalt in Organisationen
Nicht nur das Bestreben nach Chancengerechtigkeit, auch der Wunsch nach qualitativ hochwertiger Arbeit für diverse Zielgruppen und nicht zuletzt der Fachkräftemangel motivieren Verantwortliche aus Gewerkschaften, Unternehmen und Bildungsinstitutionen unsichtbare Barrieren und subtile Ausgrenzungsmechanismen aufzuspüren, die faktische Vielfalt und Teilhabe aller Bürger*innen bisher verhindern. Im öffentlichen Sektor wird dabei auf Konzepte wie Interkulturelle Öffnung und Inklusion zurückgegriffen, im privaten Sektor auf Diversity-Management. All diesen Konzepten ist die Erkenntnis gemein, dass nicht nur die benachteiligten Gruppierungen sich um Integration bemühen müssen, sondern gerade auch die etablierten Systeme, die überkommenen Strukturen der „Mehrheitsgesellschaft“.
Barrieren abzubauen ist ein anspruchsvoller oft mehrjähriger Veränderungsprozess, Fortbildungen alleine reichen nicht aus. Verantwortlichen, die sich auf den Weg zu einer vielfältigeren Organisationskultur machen, wird beispielsweise deutlich, dass Ideale einer weiß-deutschen Mittel- und Oberschicht kulturelle Codes in ihren Einrichtungen prägen. Menschen, die nicht der unhinterfragten „Normalität“ entsprechen, müssen sich, ihr Aussehen, ihre Verhalten oftmals erklären, ihren Stammbaum erläutern oder sich besonders stark anstrengen, um dazuzugehören. Rekrutierungs- und Personalentwicklungsprozesse sind von diesen Normalitätsvorstellungen geprägt, oft aber auch die Angebote und Produkte.
Veränderung beginnt mit der Reflexion der eigenen Situation
Ein wesentlicher Schritt im Bemühen, Vielfalt als Normalfall zu etablieren, besteht im Eingeständnis, selbst verstrickt zu sein in ein System von Privilegien und Benachteiligungen. Was kann ich mir leisten? Wo fühle ich mich sicher? Wo kann ich mich unter meinesgleichen entspannen? Wo kann ich auf mir Fremde zugehen, ohne schräg angesehen zu werden? Wo finde ich Gehör? Je nachdem, welche Hautfarbe, welches Geschlecht, welches Alter, welchen Aufenthaltsstatus, welches Aussehen oder welche sexuelle Orientierung Menschen haben, werden sie diese Fragen unterschiedlich beantworten – erst recht, weil sich diese Kategorien in jeder Person unterschiedlich verschränken.
Barrieren in Schule abbauen
Interkulturelle Öffnungsprozesse oder Diversity-Prozesse berühren demnach persönliche Erfahrungen, Selbstkonzepte und Gefühle. Damit stoßen sie immer auch auf Widerstände. Nicht alle Menschen sind bereit Privilegien abzugeben, einige haben Angst ihre Identität oder ihre materielle wie emotionale Sicherheit zu verlieren. Für Bildungsinstitutionen, die beeinflussen, mit welcher Haltung und welchem demokratischen Verständnis Lernende in die Welt gehen, sind Interkulturelle Öffnung, Inklusion oder Diversity-Management jedoch wesentliche Qualitätsmerkmale. Jede Schule stellt sich der Herausforderung, Schüler*innen unterschiedlichster Voraussetzungen Bildungserfolg zu ermöglichen und die bestmöglichen Rahmenbedingungen für das Lernen aller zur Verfügung zu stellen. Dazu gehört ein Ringen um eine vorurteilsbewusste Haltung, ein engagiertes Aufspüren von Etikettierungen und Labels, die stigmatisieren und demotivieren, und ein entschiedener Abbau von Barrieren, die Privilegien und Benachteiligungen reproduzieren.
Dr. Rita Panesar ist gestaltorientierte und systemische Organisationsberaterin mit den Schwerpunkten Diversity, Internationales Bildungsmanagement und Interkulturelle Öffnung.